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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition)
Autoren: Pieter Webeling
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Kameraden mit Karabinern bewacht. Betrachtete man sie als Verräter? Hätten sie fliehen müssen?
    Es gab weiterhin Tote. Das Sterben nahm einfach kein Ende. Einer der russischen Panzer war mit Weißbrot, Mar ga rine, Dosenfleisch und anderen Lebensmitteln beladen. Wir mussten uns in eine Schlange einreihen. Ich stand irgendwo in der Mitte. Einige ausgemergelte Häftlinge verloren die Beherrschung und stürzten sich auf das Brot. Kurz darauf krümmten sie sich auf dem Boden und starben.
    Neben mir zeigte ein Gefangener mit offenem Mund auf einen Mitgefangenen vor ihm. »Kapo, SS «, sagte er heiser. »Kapo, SS !« Der angebliche Schuft sah sich ängstlich um. Ich kannte ihn nicht, fand ihn allerdings verdächtig wohl genährt aussehend. Bestimmt sechs, sieben Gefangene umzingelten ihn und drückten ihn zu Boden. Sie traten und schlugen mit einer jah relang aufgestauten Wut auf ihn ein. Er schrie wie ein Schwein auf der Schlachtbank.
    Ein russischer Soldat, eigentlich ein Junge mit dem Blick eines Mannes, dem nichts mehr fremd war, ließ seine Zigarette fallen und trat sie mit seinem Stiefel aus. Aus einer Panzerkabine holte er, ohne zu zögern, einen Benzinkanister und reichte ihn einem der Rächer. Sein Feuerzeug warf er grinsend hinterher. Der Kapo rang stöhnend nach Luft. Er wurde von einem Häftling mehrere Meter weitergeschleift und mit Benzin übergossen. Anschließend tauchten sie das Ende eines Baumwolllappens in den Benzinkanister und zündeten es an. Einen Augenblick später züngelten am Körper des Kapo Flammen hoch.
    Ich wollte das nicht mit ansehen, geschweige denn riechen. Mit einem großen Stück Brot im Arm beschloss ich Schlomo zu besuchen. Mit ihm wollte ich die Befreiung in aller Ruhe feiern. Als ich durch die Straßen lief, entdeckte ich vier junge, etwas sechzehn- bis siebzehnjährige Häftlinge mit Tischbeinen. Sie hielten mich auf.
    »Wir sind auf der Suche nach Schweinen«, rief einer.
    »Ja, um sie abzuschlachten«, rief ein anderer.
    Ich sah sie lange an. »Wie seid ihr den letzten Transporten entkommen?«
    »Ein Baum ist auf ein Transformatorenhäuschen gestürzt. Der Stacheldraht steht nicht mehr unter Strom.«
    Wie viele Handlanger der SS waren wohl im Lager geblieben? Mich wunderte, dass überhaupt noch welche da waren. Vielleicht hatte die SS die Vorzugsbehandlung der Kapos und Blockältesten eingestellt, sodass ihre Überlebenschancen auf einem der Transporte genauso groß oder klein gewesen wären wie die der Juden.
    In der Nähe einer Baracke sah ich ein Handgemenge. Hörte das denn nie auf? Auf einmal erkannte ich: Das war Schlomos Baracke! Schlagartig waren sämtliche Müdigkeit und alle Schmerzen vergessen. Ich rannte darauf zu. Fünf Mann waren dabei, Schlomo zu verprügeln. Ich schrie, packte die Angreifer und zerrte sie von ihm herunter. Einem trat ich so fest in den Magen, dass er taumelnd nach Luft rang.
    Sie wichen zurück. »Er ist ein Verräter, ein Verräter«, jammerte einer.
    »Er ist ein Freund, verdammt, er ist ein Freund!« Ich brüllte vor Wut. Schlomo trug noch seine rote Armbinde. Sein blutiges Gesicht war kaum wiederzuerkennen.
    Schlomo sah mich an. Ich kniete mich hin und nahm seinen Kopf vorsichtig in meine Arme. Er lächelte und sagte etwas. Ich lachte und küsste seine Stirn, kniff ihn, als könnte ich ihn dadurch festhalten. Sein Lächeln blieb, doch sein Blick wurde stumpf. Ich brüllte erneut, diesmal lautlos.
    Ich wiegte meinen Freund sanft hin und her. Starrte ihn an, hatte das Gefühl, dem Tod nie zuvor aus solcher Nähe ins Gesicht gesehen zu haben. Was zählte, war nur das Leid davor und danach. Der Tod selbst war vollkommen bedeutungslos. Er war ein Übergang. Ein Seufzen.
    Sein letztes Wort war Ernst gewesen. Zum ersten Mal hatte er mich bei meinem Namen genannt.
    41
    Der Mann im Spiegel stammte aus einer anderen Welt. Woran ich das sah, wusste ich nicht so genau. Ich reckte mich und spürte ein Ziehen in den Narben auf meinem Rücken. Ich trank von dem Wasser, das Henri Toussaint mir gebracht hatte. Es war kurz vor sieben. Noch eine Stunde. Bald würde das Warten ein Ende haben.
    Es fiel mir schwer, Abstand zu gewinnen: Jedes Mal, wenn ich jemanden auf der Straße lachen hörte, war ich wieder im Lager. Ich hörte Gila van Praags Lachen im Auskleideraum. Das Lachen der sturzbetrunkenen Männer in der SS -Kantine. Sah das »verliebte« Grinsen des Henkersknechts im Verhörraum. Janusz’ Grinsen über das von ihm gefälschte Hitler-Bärtchen.
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