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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition)
Autoren: Pieter Webeling
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Souterrain einschlug?
    Schon von Weitem sah ich, was los war: In der Häuserzeile klaffte ein riesiger Krater. Mein Haus war nicht mehr da. Ich blieb stehen und betrachtete die offene Wunde. Die Aufräumarbeiten hatten bereits stattgefunden, lediglich ein paar lose Steine und etwas Schutt waren übrig. Ich konnte den Blick einfach nicht abwenden, wollte das großbürgerliche Haus wieder vor meinem inneren Auge erstehen lassen: den Flur, die Vorhalle, das Arbeitszimmer meines Vaters mit dem Pfeifenregal, den Tintenfässern und der Erika-Schreib maschine. Die Küche, in der ich in Neeltje, Geertje und Hendrik mein erstes Publikum gefunden hatte. Die Gemälde! Jeden Tag hatte ich die Gegenwart meiner Vorfahren in den mannshohen Porträts gespürt, die im Treppenhaus hingen. Weg. Alles weg!
    »Ist das nicht schrecklich?«
    Eine von den Jahren gebeugte alte Dame mit faltigem Gesicht stützte sich neben mir auf ihren Gehstock und folgte meinem Blick. »Irgendwann letztes Jahr ist hier ein englischer Jagdbomber abgestürzt. Eine Lengkast … Langkast …«
    »Lancaster.«
    »Genauso heißen die Dinger. Sie ist mit brennenden Tragflügeln runtergekommen, nachdem sie von Abwehrgeschützen der Deutschen getroffen wurde. Drei Häuser, Meneer. Drei, stellen Sie sich das mal vor. Zehn Tote! In unmittelbarer Nähe waren jede Menge Fenster geborsten. Eines der Häu ser gehörte einem Juden. Der war in einem Lager. Zum Glück, sonst wäre er jetzt mausetot. Wie viel Massel kann ein Mensch haben?
    Kurz nach sieben. Ich begann, mich für meinen Auftritt zu schminken.
    Ich war allein. Klara war weggezogen, wohin wusste ich nicht. Weil mein Haus nicht mehr existierte, war ich in die Pension in der Spuistraat zurückgekehrt. Mit dem Besitzer vereinbarte ich, dass ich gegen Kost und Logis die Zimmer putzen und viermal die Woche als Nachtportier arbeiten würde. Das machte mir nichts aus. Vielleicht war es eine Form der Selbstkasteiung. Von meinen Freunden war ich so ziemlich der einzige Überlebende. Warum ich und nicht sie? Bisweilen hatte ich das Gefühl, toter zu sein als die Lebenden – nämlich wenn ich an trüben Tagen durch die Stadt streifte, ohne überhaupt bemerkt zu werden.
    Ich dachte oft an Grosso. Er war von uns allen der Mutigste gewesen. Ein Held, der einer sein konnte, weil er nicht nachdachte. Dabei hätte der krönende Abschluss der letzten Vorstellung von mir kommen müssen. An mir wäre es gewesen, messerscharf die Schufte bloßzustellen. Mit Humor. Aber ich hatte mich nicht getraut und war auf der sicheren Seite geblieben. Grosso hatte das an meiner Stelle getan, die Arschlöcher fertiggemacht und aus dem Zelt gejagt. Ob aus reiner Unwissenheit oder nicht, spielte dabei überhaupt keine Rolle. Er war tot, und ich lebte noch, doch was brachte mir die gewonnene Lebenszeit?
    Es klopfte. Henri steckte den Kopf herein.
    »Jemand möchte Sie sprechen.«
    Ich erstarrte. »Wer?«
    »Jemand, der das Zeitungsinterview gelesen hat.«
    Das Interview! Ein junger Reporter in einem verblichenen und viel zu großen Anzug hatte mir im Auftrag von Het Parool ein paar Fragen über das Leben im Lager und zu meiner Rückkehr auf die Bühne gestellt. Das Ganze war von Henri über einen Bekannten eingefädelt worden. Er wollte die restlichen Karten loswerden, und ich hatte es natürlich für Helena getan.
    Und jetzt?
    Was jetzt?
    Henri huschte wieder hinaus. In der Tür erschien ein vierzehn bis fünfzehn Jahre alter Junge. Stand noch jemand hinter ihm? Nein. Ich holte tief Luft und riss mich zusammen.
    »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte er.
    »Keine Ursache.« Ich stand auf und gab ihm die Hand. »Hoffmann.«
    »Ich bin Jaap, Meneer Hoffmann. Jaap de Ronde. Max de Rondes Sohn.«
    Nach einem Moment der Verblüffung ging ich auf ihn zu und umarmte ihn. Er war überrascht und schien nicht zu wissen, ob er mich ebenfalls umarmen durfte. Ich bot ihm den Sessel an und erzählte ihm alles, ohne dass er mich lange darum bitten musste. Berichtete ihm von dem viel zu lauten Lachen seines Vaters, von dem Diamanten, der Träne Gottes, und vom Vorsatz seines Vaters, die Familie zu retten. Ich war Zeuge von Max’ letzten Lebensstunden gewesen.
    Jedes kleine Detail war kostbar. Ich wollte nichts auslassen, nicht das Geringste – erst recht nicht meine Vorstellung im Waggon, die für Max de Ronde so fatale Folgen gehabt hatte, weil eine Kugel der aufgebrachten SS -Männer ihn traf. Ich sah, wie Jaap schluckte, und legte ihm eine Hand auf die
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