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Das Knochenhaus

Das Knochenhaus

Titel: Das Knochenhaus
Autoren: Stephen Lawhead
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Blässe – ein weißer Hügel auf einem schneeweißen Platz. Es nahm ein gespensterhaftes, beinahe ätherisches Aussehen an, als ob es nicht aus den Knochen errichtet worden wäre, sondern aus den Säugetier-Geistern der toten Geschöpfe. Eine bange tiefgründige Ahnung schlich sich wie heimlicher Frost in Kits Seele ein. Diese merkwürdige Unterkunft war für einen ganz bestimmten Zweck errichtet worden – und wegen dieses Zwecks waren sie beide hergekommen.
    En-Ul wandte sich ihm zu, starrte ihm in die Augen und wollte ihn unbedingt dazu bringen, dass er verstand. Kit empfing einen Eindruck von unermesslicher Wichtigkeit und von einer unauslotbaren Tragweite an Konsequenzen, eine Bedeutung von unvorstellbarer Größe – als ob ganze Welten von Bedeutung an diesem Ort zusammenliefen. Es gab kein einziges Wort dafür; doch die Kraft dieser Vorstellung traf ihn mit einer Dringlichkeit, die so mächtig war wie Hunger und Durst.
    Kit, der sich die größte Mühe gab, das Gemeinte zu verstehen, war überwältigt von dem übermittelten Gedanken. »Warum sind wir hierhergekommen?«, fragte er laut.
    Der Alte legte den Kopf in den Nacken und schaute einen Augenblick lang zum bleichen, weißen Himmel hoch. Dann richtete er seinen Blick wieder auf Kit und hauchte in dessen Geist das Bild von Lebewesen vielfältiger Art ein – die Kreaturen des Waldes, der gesamte Wald als solcher, alle Stämme der Steinzeit. Dies verband er anschließend mit dem Gefühl eines Schwimmens gegen die starke Strömung eines Flusses – oder eines Ankämpfens gegen ein mächtiges Mahlen oder gegen eine rücksichtslose Kraft, die auf sinnlose Zerstörung ausgerichtet ist: Überleben.
    Ihre Anwesenheit am Knochenhaus hatte etwas zu tun mit dem Überleben von ihnen und ihrer Welt: So jedenfalls erklärte sich Kit die ihm übermittelten Vorstellungen und Gefühle. Und obwohl er noch nicht erkennen konnte, wie das gemeint war, zweifelte er nicht an der Ernsthaftigkeit von En-Uls Anliegen.
    Sobald Kit diese Gedanken gekommen waren, wandte sich der uralte Häuptling von ihm ab und ging zum Eingang des Knochenhauses. Vor der niedrigen Türöffnung hielt er inne und blieb einen Moment lang stehen; dann hob er seine Hand, legte sie mit der Innenfläche voran auf die Stirn des riesigen Elchschädels und beugte den eigenen Kopf in einer Gebärde, die Kit noch nie zuvor bei irgendeinem der Stammesmitglieder gesehen hatte. Anschließend bückte er sich tief, kroch in die Knochenhütte und forderte Kit mit einem Handzeichen auf, ihm zu folgen.
    Innen bildeten die Knochen einen kuppelförmigen Raum von bizarrer, welliger Form, der nur vom wässrigen Tageslicht des Winters erhellt wurde, das durch die Ritzen und Spalten zwischen den ineinandergefügten Knochen eindrang. Der Boden bestand aus festgetretenem Schnee, über dem Kiefernäste ausgebreitet waren, auf denen man Felle und Pelze geschichtet hatte. Kit bemerkte, dass an der Seite eine kleine Vorratskammer mit Lebensmitteln – getrocknetem Fleisch und Beeren – und kleine Schneehaufen zur Wassergewinnung eingerichtet worden war.
    En-Ul setzte sich mit übereinander gekreuzten Beinen in die Mitte des Raums. Er schaute sich um und stieß ein zufriedenes Grunzen aus, als ob er ausdrücken wollte, dass er das vollendete Erzeugnis für gut befand. Als Kit sich dann ihm gegenüber niedergelassen hatte, wandte er sich der Aufgabe zu, dem jungen Mann mitzuteilen, was nun geschehen würde.
    Kit ahmte den Alten nach, indem er die Beine kreuzte und Pelze um sich herum legte, als plötzlich in seinem Geist ein Bild von ihm selbst in schlafender Körperhaltung auftauchte – so wie es vielleicht irgendjemand vom Clan gesehen hatte. Sofort danach entstand eine Art seltsame Empfindung vom Fliegen, so als ob man tatsächlich Flügel hätte und hoch oben auf dem Wind segelte ... Träumen?
    Diesem Gedanken folgte ein zufriedenes Grunzen; und augenblicklich fühlte Kit erneut den gigantischen, unergründlichen Ozean an Konsequenzen – diesmal nur war es wirklich ein Ozean: ein gewaltiger Gezeitenstrom, der sich endlos bewegte ... Zeit?
    »Zeit träumen«, sagte Kit laut, obwohl dies genau genommen überhaupt keinen Sinn für ihn ergab.
    Der mentale Kontakt verblasste und verflüchtigte sich im Äther; und En-Ul schloss seine Augen. Seine Atmung veränderte sich, sein Körper entspannte sich, und bald begriff Kit, dass der Alte schlief.
    Kit wartete.
    Als nichts mehr geschah, kroch er aus dem Knochenhaus und ging zur
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