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Das Knochenhaus

Das Knochenhaus

Titel: Das Knochenhaus
Autoren: Stephen Lawhead
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kreisrunden Grenze der Lichtung, um seine Notdurft zu verrichten. Der Tag wurde allmählich stürmisch; vom Norden her hatte sich ein scharfer Wind erhoben, der ringsum durch die hohen Kiefern rauschte. Der zuvor bleiche Himmel war dunkler geworden, und schwere Wolken voller Schnee zogen an ihm vorbei. Ein Sturm war im Anzug; er konnte den metallischen Geruch in der Luft wahrnehmen. Sie würden bald zu ihrem Unterschlupf auf dem Felssims zurückgehen müssen, doch es widerstrebte ihm, den Uralten in seinem Schlaf zu stören. Kit wusste nicht, was er tun sollte, aber eines war sicher: Er hatte es nicht gern, allein draußen im Wald zu sein – es war nicht sicher.
    Kit kehrte ins Knochenhaus zurück. En-Ul war, wenn das überhaupt möglich war, in einem noch tieferen Schlaf als zuvor. Kit ließ sich nieder, um zu warten; doch nach einer gewissen Zeitspanne, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam und in der er nichts anderes getan hatte, als dem tiefen, regelmäßigen Atem des alten Häuptlings zuzuhören, wurde er zu besorgt, um den Aufbruch noch länger hinauszuschieben. Er nahm die Pelze, die er benutzt hatte, und wickelte sie um En-Uls Körper. Nachdem er seinem schlafenden Gefährten alles Gute gewünscht hatte, ging er weg.
    Er rannte, trottete und stolperte durch den Schnee. Und schließlich kletterte Kit in die Sicherheit des Lagerplatzes im Tal zurück; er kam an, als das letzte Tageslicht im zwielichtigen Nebel verschwand. Der Fluss-Stadt-Clan begrüßte seine Rückkehr mit einem Grunzen, das ein Wiedererkennen zum Ausdruck brachte; seine Abwesenheit schienen sie als eine Angelegenheit von geringem Interesse betrachtet zu haben. Kit machte Dardok ausfindig, da er glaubte, von ihm eine Erklärung dafür zu bekommen, was an diesem Tag stattgefunden hatte. Er hielt im Geiste ein Bild vom Knochenhaus fest und sagte: »En-Ul schläft dort.«
    Dies schien verstanden worden zu sein – zumindest so weit, wie Kit erkennen konnte –, denn es folgte ein barsches Schnauben, das eine Bestätigung ausdrückte.
    »Er hat gesagt, er träumt Zeit«, fuhr Kit fort, der nun sein Glück überstrapazierte. »Ist das so?«
    Dardoks Gesichtsausdruck verdüsterte sich, und ein tiefes grollendes Brummen entstieg seiner Kehle – ein Zeichen der Unzufriedenheit. Damit war das Gespräch beendet. Es bestätigte, was Kit sich bereits gedacht hatte: Welche Fähigkeit En-Ul auch immer besaß, die ihm erlaubte, mit Kit zu kommunizieren – die anderen verfügten nicht darüber oder zumindest nicht in einem gleichen Ausmaß.
    Später aß Kit und kroch dann sogleich fort, um an seinem gewohnten Platz zu schlafen; er war unerklärlich müde von seinen Anstrengungen. Doch der Schlaf blieb ihm versagt. Eine lange Zeit lag er nur da und grübelte über die mögliche Bedeutung des Ausdrucks »Zeit träumen«. Was mochte damit gemeint sein?
    Kit, der sich zum Schutz gegen die Kälte in einen Pelz gewickelt hatte, starrte an der rot glühenden Asche des sterbenden Feuers vorbei – und darüber hinaus ins unergründliche Meer der Finsternis wie in eine beängstigende Zukunft. Und sein Geist, der mit der Seltsamkeit und dem Wunder des Knochenhauses angefüllt war, zauberte eine Vision herbei.
    Er sah, wie ein Vollmond über einer windgepeitschten Hochebene aufstieg; sein silbernes Licht beleuchtete die Biegung eines Flusses, der in eine flache Talschüssel eingebettet war. Der große runde Mond goss sein Licht weiter nach unten, während er am Himmel vorüberzog. Die Sterne kreisten langsam am Firmament, bis der Mond am westlichen Horizont verschwand.
    Dann war alles dunkel ... doch nur für einen Augenblick. Bevor Kit auch nur blinzeln konnte, stieg der Mond erneut auf – diesmal allerdings schneller – und zog ein weiteres Mal oberhalb der Krümmung des Flusses vorbei. Der Mond ging auf und unter, nur um diesen Vorgang aber und abermals zu wiederholen. Und bei jedem Mal bewegte sich der Mond schneller. Schließlich verschmolz sein Auf-und Untergang zu einem einzigen fließenden Maßwerk aus Licht – ein strahlender Bogen über dem unendlichen Sternenfeld. Dieser glänzende Bogen wurde breiter und dehnte sich zu einem leuchtenden Band aus, das die wandernde Erde umgab.
    Draußen auf der Ebene sah er, wie sich in der Ferne ein Berg erhob; im silbernen Mondlicht sah er weiß und geisterhaft aus. Der Berg wurde immer höher, und Kit bemerkte, dass er sich bewegte: langsam, doch unaufhaltsam folgte er dem Lauf des Flusses, der nun mit Eisbrocken auf
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