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Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)

Titel: Das Knistern in den Sternen: Roman (German Edition)
Autoren: Jón Kalman Stefánsson
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nicht, und daher hast du so viele Bewunderer und Neider. Das ist schon ein bisschen komisch, muss ich sagen. Aber Gislis Gefühle sind ganz ohne Falsch, er ist ein guter Mensch. Er bietet einer Frau Schokolade statt Zigarren an, und er steht sehr weit oben auf der Stufenleiter der Gesellschaft. Vielleicht sollte ich dich nach Hafnarfjördfur zurückjagen und seine Geliebte werden, das könnte ganz lustig werden. Er ist ein zärtlicher und rücksichtsvoller Liebhaber. Übrigens habe ich unser Haus auf dem Hof im Westen angesteckt. Es ist völlig abgebrannt.«
    Das mit Gisli und dem Haus erwähnt sie, ohne im Geringsten den Tonfall zu ändern. Urgroßvater scheint den Inhalt ihrer Worte gar nicht zu begreifen und guckt sie bloß an. »Ich habe das Haus angezündet«, wiederholt sie. »Es ist komplett abgebrannt, aber vorher hat mir jemand geholfen, die Möbel ins Freie zu tragen. Ja, mir ist sehr geholfen worden. Die Sache dürfte Folgen haben. Ich gehe davon aus, dass du den Hof mitsamt dem intakten Haus verkauft hast. Irgendwer muss dafür geradestehen.«
    »Das werde ich«, wirft Urgroßvater sofort ein wie ein Verstoßener, der unerwartet noch einen Weg zur Rettung sieht. »Ich gehe dafür ins Kittchen!«
    »Und wäschst damit auch gleich dein Gewissen rein?«
    Er sieht sie an, das Haar fällt ihm in die Stirn, und er ist voller Demut, ganz unterwürfig.
    »Du sollst dich niemals unterstehen, mich so anzusehen! Nie, nie, nie!«
    »Aber ich schäme mich so«, flüstert er.
    »Das ist keine Entschuldigung«, sagt sie und wiederholt das eine Wort, das sie nach HafnarfjörJur geschrieben hatte: »Komm!«
    Sie sagt: »Komm her!«, und so vergeht der Herbst.
    Es wird Winter, Monate vergehen, Jahre vergehen. »Komm her!«, sagte sie, und achtzig Jahre später sitze ich hier am Stadtrand von Reykjavik. Alle sind inzwischen gestorben, bis auf das kleine Mädchen, das mit einer seltenen Muschel unter dem Kopfkissen schlief. »Komm her!«, hatte Urgroßmutter gesagt, und Urgroßvater hatte sich erhoben. Großvater drehte sich im Bett um und sollte am nächsten Morgen frohgelaunt erwachen, weil er seinen Vater wiederhatte. Großvater drehte sich um, damals sieben Jahre alt, und jetzt ist er tot. Seine ältere Schwester ebenfalls. Ich habe es noch erlebt, wie ihr ehemals so hellblondes Haar grau wurde, es wurde matter wie ein langsam, aber sicher herabgedrehtes Licht. »Komm!«, hatte Urgroßmutter gesagt, und Urgroßvater kam; allerdings hatte er keine Ahnung, dass bereits wieder Leben in ihr wuchs, das vierte und letzte Kind, das später Dichter werden sollte. Sein Leben verlief unbeständig wie das Wetter, er ließ eine Spur in der Sprache zurück, doch jetzt ist er ebenfalls tot. »Du überlebst uns alle«, hatte er zu seiner Schwester gesagt, als er den Tod nahen fühlte. Bei der Einsargung stand ich neben ihr. Sie weinte. Es geht einem nah, eine alte Frau weinen zu sehen. Danach ging sie nach Hause und drehte einen Stein zwischen den Fingern, einen Stein, der wie ein kleiner Mensch geformt war. »Hör mal, wie es darin rauscht«, sagte sie manchmal zu mir und zog ihre Muschel hervor. »Horch! Das ist das Meer vor Snæfellsnes.« Ich lauschte und hörte das Brausen. Aber das Meer vor Snæfellsnes? Damals habe ich es geglaubt, aber jetzt bin ich mir dessen nicht mehr so sicher. Mittlerweile habe ich den Verdacht, das Brausen stammt eher von der Geschwindigkeit der Erde, mit der sie durch den Weltraum schießt auf ihrer ungewissen Reise. Mitunter hören wir dieses Brausen auch in unseren Träumen. Die, die es früher hörten, sagten gewöhnlich dazu: »Oh, jetzt hat mich das Schicksal angerührt.«
    Ich möchte dieses Buch abschließen, meine Skizzen von einigen Atemzügen auf der Erdoberfläche. Danach möchte ich meine Großtante besuchen, die einmal vier Jahre alt war und todkrank in den Armen meines Urgroßvaters lag. Er schacherte mit Gott und dem Teufel, dass sie am Leben bliebe, und sie blieb am Leben. »Komm her!«, sagte Urgroßmutter, und Urgroßvater erhob sich. Dann verstrich die Nacht, und der nächste Tag stieg herauf, und die jüngeren Kinder weckten überglücklich ihren Vater. Der Tag ging herum und der nächste auch. Das kleine Mädchen wurde zu einer jungen Frau und sah das Dorf Reykjavik zu einer Stadt heranwachsen. Die Frau wurde älter und schenkte mir ein Fahrrad, rot war es und hatte einen Gepäckträger. Da wird Gunnhildur sitzen, dachte ich, und wir machen eine Fahrradtour zusammen, aber jetzt ist
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