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Das kleine Gespenst

Das kleine Gespenst

Titel: Das kleine Gespenst
Autoren: Otfried Preußler
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rief der Uhu Schuhu. „Niemand vermag sich das vorzustellen, der es nicht selbst erlebt hat. Sie dürfen mir glauben, es war entsetzlich. Aber das Allerentsetzlichste kam erst noch!"
    An dieser Stelle hielt es der Uhu Schuhu für angezeigt eine Pause zu machen, erstens um sich zu räuspern und zweitens der größeren Spannung wegen. Das kleine Gespenst rutschte unruhig auf dem Eichenast hin und her.

    „Und was war das Entsetzlichste?", fragte es.
    „Das waren die Krähen", sagte der Uhu Schuhu. „Auf einmal hörte ich ihr Gekrächze. Es musste ein ganzer Schwärm sein, dreißig bis vierzig von diesen heiseren Schreihälsen. Das Gesindel entdeckt mich und merkt, dass ich blind und hilflos bin. Da kommt es herbeigeflattert, umschwärmt mich und krächzt mir aus nächster Nähe die Ohren voll mit den scheußlichsten Schimpfworten, die ich je gehört habe. Aber noch nicht genug damit! Eine der Krähen wird übermütig und hackt im Vorbeifliegen mit dem Schnabel nach mir. Ich kann mich nicht wehren, die anderen sehen das - und schon fallen auch sie mit den Schnäbeln und Krallen über mich her, dass ich glaube, im nächsten Augenblick ist es aus mit mir. Es war fürchterlich, lieber Freund, es war höllenmäßig! Wie ich es fertig gebracht habe, trotzdem nach Hause zu finden, das weiß ich selbst nicht. Mehr tot als lebendig bin ich in meiner Höhle angekommen. Hier war ich in Sicherheit vor dem Krähenschwarm, aber fragen Sie nicht, wie ich zugerichtet war! Übel, übel, mein Lieber!"

    Der Uhu schlug mit den Flügeln, als gelte es, die Erinnerung an jenen unglückseligen Morgen abzuschütteln.
    „Und darum", beschloss er seine Geschichte, „habe ich mir geschworen, in Zukunft immer darauf zu achten, dass ich bei Tagesanbruch zu Hause bin. Wir Nachtgeschöpfe sind für das Tageslicht eben nicht geschaffen. Auch Sie nicht, verehrter Freund, Sie ganz besonders nicht!"

In der nächsten Zeit wurde das kleine Gespenst immer öfter und immer heftiger von dem Wunsch geplagt, sich die Welt bei Tageslicht anzusehen. Mochte der Uhu Schuhu dagegenreden, so viel er wollte!
    „Ich glaube nicht, dass mir viel passieren könnte", dachte es. „Notfalls habe ich ja den Schlüsselbund, um mich damit zur Wehr zu setzen. Und außerdem bin ich unverwundbar. Was soll mir da schon geschehen?"
    Solche Gedanken macht man sich nicht umsonst. In einer der letzten Juninächte war es so weit, das kleine Gespenst entschloss sich dazu, seinen Wunsch
    zu verwirklichen, Was es dabei zu tun hatte, war ihm völlig klar: „Ich darf mich am Ende der Geisterstunde nicht schlafen legen wie sonst - ich muss wach bleiben, bis es tagt. Das ist alles."
    Wenn die Geisterstunde zu Ende ging, wurde das kleine Gespenst immer sterbensmüde. Auch heute verspürte es kurz vor ein Uhr den unwiderstehlichen Drang zu gähnen und gleichzeitig merkte es, wie ihm der Kopf und die Glieder schwer zu werden begannen. Da setzte es sich auf den Rand seiner Eichentruhe (sicher ist sicher) und nahm sich vor: „Nicht nachgeben, kleines Gespenst! Bloß nicht nachgeben!"
    Doch was vermag so ein kleines Nachtgespenst gegen seine Natur? Als die Rathausuhr ein Uhr morgens schlug und die Geisterstunde herum war, fühlte das kleine Gespenst, dass ihm schwindlig wurde. Es musste für eine Sekunde die Augen schließen -und als es sie wieder öffnete, drehte sich alles im Kreis: der Schornstein, der Mond vor dem Giebelfenster, die Spinnweben und die Dachsparren: Alles drehte und drehte sich - bis das kleine Gespenst nicht mehr wusste, wo unten und oben war. Da verlor es das Gleichgewicht, kippte hintenüber in seine Truhe und schlief auf der Stelle ein.
    Es schlief bis zur nächsten Mitternacht und als es erwachte, war es enttäuscht und ärgerlich, ärgerlich auf sich selbst. Doch es wollte die Hoffnung so rasch nicht aufgeben.
    „Heute klappt es vielleicht umso besser", sagte es sich. „Ich versuche es jedenfalls gleich noch einmal!"
    Aber der zweite Versuch misslang ebenso wie der erste und auch beim dritten Mal hatte das kleine Gespenst kein Glück mit dem Wachbleiben,
    „Wenn ich bloß einen Ausweg wüsste!", dachte es in der vierten Nacht.
    Heute war schlechtes Wetter. Der Regen prasselte auf das Dach, in den Schornsteinen heulte der Wind, in den Regenrinnen gluckste das Wasser. Voller Missmut begab sich das kleine Gespenst in das Burgmuseum. Georg-Kasimir und die anderen Grafen und Ritter blickten spöttisch aus ihren goldenen Rahmen (so wenigstens kam es ihm vor), und
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