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Das kleine Gespenst

Das kleine Gespenst

Titel: Das kleine Gespenst
Autoren: Otfried Preußler
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lassen.
    Dazu gehört es ganz offensichtlich, dass man als Nachtgespenst nicht am Tag herumgeistern kann, Das sollten Sie einsehen und sich damit zufrieden geben."

Das kleine Gespenst war sehr traurig, es ließ in den folgenden Nächten häufig den Kopf hängen. Nach allem, was es erlebt hatte, glaubte es nicht mehr daran, dass es ihm je vergönnt sein werde, die Welt bei Tag zu sehen. Aber man weiß ja, dass Wünsche mitunter gerade dann in Erfüllung gehen, wenn man am allerwenigsten damit rechnet.
    Seit dem Gespräch mit dem Uhu Schuhu war eine knappe Woche vergangen.
    Wieder einmal schlug die Rathausuhr zwölf und wie immer erwachte das kleine Gespenst mit dem letzten Glockenschlag. Es rieb sich den Schlaf aus den Augen, es reckte und streckte sich, wie es seine Gewohnheit war. Dann entstieg es der Truhe, stieß mit dem Kopf an die Spinnweben, musste niesen -„Hatzi!" - und kam schlüsselrasselnd hinter dem Schornstein hervorgeschwebt,
    Aber nanu, wie verändert der Dachboden heute aussah! War er nicht sehr viel heller als sonst, viel geräumiger?
    Durch die Ritzen zwischen den Dachziegeln schimmerte goldenes Mondlicht herein, daran lag es wohl.
    Goldenes Mondlicht?
    Mondlicht ist silberweiß, manchmal mit einem Stich ins Bläuliche ... Aber golden?
    „Wenn es kein Mondlicht ist", überlegte das kleine Gespenst, „- was denn dann?"
    Es huschte zum nächsten Dachfenster, um einen Blick ins Freie zu werfen, - aber sogleich fuhr es wieder zurück und hielt sich die Augen zu,
    Das fremde Licht draußen war so grell, dass sich das kleine Gespenst erst langsam daran gewöhnen musste. Vorsichtig blinzelnd schaute es aus dem Fenster. Es verstrich eine ganze Weile, bis es die Augen öffnen und richtig hinsehen konnte,
    „Ah!", rief es aus und staunte.
    Wie hell war die Welt heute! Und wie bunt sie war!
    Bisher hatte das kleine Gespenst gemeint, dass die Bäume schwarz seien und die Dächer grau. Nun merkte es, dass sie in Wirklichkeit grün und rot waren.

    Jedes Ding hatte seine besondere Farbe!
    Türen und Fensterrahmen waren braun angestrichen, die Vorhänge in den Wohnungen bunt gemustert. Im Burghof lag gelber Kies, die Grasbüschel auf den Mauern leuchteten saftiggrün, vom Turm wehte eine Fahne mit roten und goldenen Streifen - und hoch über allem wölbte sich klar und strahlend der prächtige blaue Sommerhimmel, an dem ein paar einzelne weiße Wölkchen dahintrieben, klein und verloren wie Fischerboote auf einem weiten Meer.
    „Herrlich, ganz herrlich!", jauchzte das kleine Gespenst und kam aus dem Staunen gar nicht heraus.
    Es dauerte einige Zeit, bis ihm klar wurde, was geschehen war.
    „ Sollte ich wirklich einmal bei Tag erwacht sein?"
    Es rieb sich die Augen, es zwickte sich in die Nase - wahrhaftig, es träumte nicht!
    „Es ist Tag, es ist heller Tag!", rief das kleine Gespenst außer sich vor Freude.
    Wie und warum sich gerade heute sein Wunsch erfüllt hatte, wusste es nicht.
    Vielleicht war ein Wunder geschehen?
    Wer konnte das sagen ..,
    Aber dem kleinen Gespenst war es einerlei.
    „Hauptsache", dachte es, „dass ich mir endlich einmal die Welt bei Tag betrachten kann! Los jetzt, ich darf keine Zeit verlieren, ich muss mich ein wenig genauer umsehen auf dem Eulenstein!"

Neugierig eilte das kleine Gespenst die Bodenstiege hinunter. Es wischte ins Treppenhaus, schwebte vom dritten Stock in den zweiten, vom zweiten Stock in den ersten, vom ersten ins Erdgeschoss. Dann huschte es in die Vorhalle, die auf den Burghof führt.
    Aber der Zufall wollte es, dass ausgerechnet an diesem Vormittag der Herr Oberlehrer Thalmeyer mit seiner vierten Klasse im Burgmuseum gewesen war - und dass er mit seinen Schülern gerade in diesem Augenblick von der anderen Seite her in die Halle kam. Als die Kinder das kleine Gespenst erblickten, fingen die Mädchen zu kreischen an und die Buben schrien: „Herr Thalmeyer, ein Gespenst! Ein Gespenst, Herr Thalmeyer!"
    Das gab einen Heidenlärm in der Vorhalle und das kleine Gespenst, das an Kindergeschrei nicht gewöhnt war, bekam einen solchen Schreck davon, dass es schleunigst Reißaus nahm. Es sauste zur Tür hinaus, auf den Burghof.
    Da meinten die Kinder, das kleine Gespenst habe Angst vor ihnen.
    „Schnell, schnell!", riefen ein paar Buben. „Wir wollen ihm nachlaufen und es einfangen!"
    „O ja!", schrien alle Übrigen, „einfangen, einfangen! Aber geschwind, sonst entwischt es uns!"
    Bevor der Herr Oberlehrer Thalmeyer sie daran hindern konnte, rannten alle
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