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Das kleine Gespenst

Das kleine Gespenst

Titel: Das kleine Gespenst
Autoren: Otfried Preußler
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lassen.

Seit dem Zwischenfall auf der Kreuzung gab es in Eulenberg eine ganze Woche lang jeden Mittag zwischen zwölf und eins große Aufregung. Um diese Zeit tauchte immer wieder an den verschiedensten Stellen des Städtchens eine schwarze Gestalt aus dem Boden auf und erschreckte die Leute.
    Am Dienstag erschien sie zwischen den Verkaufsbuden auf dem Grünen Markt und die Marktfrauen -sonst bestimmt nicht gerade zimperlich - liefen kreischend und zeternd nach allen Himmelsrichtungen auseinander.
    Am Mittwoch stattete sie dem Goldenen Löwen einen Besuch ab und jagte den Mittagsgästen, dem Löwenwirt und dem Personal einen heillosen Schrecken ein.
    Am Donnerstag wurde die schwarze Gestalt mit den Furcht erregenden weißen Augen im städtischen Gaswerk gesichtet; am Freitag verursachte sie auf dem Schulhof der Mädchenschule unter den Schülerinnen der sechsten Klasse, die dort gerade turnten, ein unbeschreibliches Durcheinander.
    Kurz und gut, es gab keinen Tag in der ganzen Woche, an dem die geheimnisvolle schwarze Gestalt nicht irgendwo auftauchte.
    Im „Eulenberger Stadtanzeiger" erschienen immer längere und immer empörtere Artikel, in denen mit aller Schärfe danach gefragt wurde, wie lange es sich die Stadtverwaltung noch leisten wolle, diesen Besorgnis erregenden Umtrieben tatenlos zuzusehen,
    Der Bürgermeister berief den Stadtrat zu einer Sondersitzung ein. Der Leiter der Stadtpolizei überlegte mit seinen Beamten bei Tag und Nacht (aber leider erfolglos), wie man den „schwarzen Unbekannten" am besten fangen könnte. Niemand im ganzen Städtchen wusste für die täglichen Zwischenfälle eine Erklärung - nicht einmal der Herr Kriminaloberwachtmeister Holzinger, der doch dafür bekannt war, dass er selbst allergeheimsten Geheimnissen innerhalb allerkürzester Zeit auf den Grund kam.

    Und dabei war die Sache in Wirklichkeit ja ganz einfach!
    Das kleine Gespenst erwachte seit neuestem nie mehr um Mitternacht, sondern immer um zwölf Uhr mittags. Es hatte sich in dem Gewirr der unterirdischen Gänge so gründlich verirrt, dass es den Rückweg zum Burgbrunnen nicht mehr fand. Seither versuchte es sein Glück bei jedem der zahlreichen Ausstiege, die aus den Gängen ins Freie führten -immer in der Hoffnung, eines schönen Tages doch wieder auf der Burg zu landen.

    „Im Übrigen macht es mir gar nichts aus, wenn ich auf diese Weise ein wenig im Städtchen herumkomme", dachte es. „Schade nur, dass die Leute immer gleich vor mir ausreißen! Aber wahrscheinlich liegt es daran, dass ich schwarz bin. Als ich noch weiß war, muss ich bedeutend harmloser ausgesehen haben als jetzt. Aber was will man dagegen machen? "
    Manchmal bekam das kleine Gespenst Heimweh nach seinem Dachboden und der Truhe aus Eichenholz.
    Manchmal wurde es traurig bei dem Gedanken, dass es in Zukunft womöglich immer bei Tageslicht geistern sollte und nie mehr um Mitternacht.
    „Bei Vollmond", dachte es seufzend, „war es sehr schön auf dem Eulenstein ..."
    Und dann stellte es sich - zum wievielten Mal wohl? - die Frage, was denn zum Kuckuck mit ihm geschehen sei.
    „Kann man als Nachtgespenst mir nichts, dir nichts zu einem Taggespenst werden?", fragte es sich. „Und wenn ja - woran liegt es wohl, dass ich eines geworden bin? So etwas kann doch nicht ohne
    Grund geschehen! Es muss eine Ursache haben ... Aber ich fürchte, die Ursache werde ich nie erfahren. Und wenn sie mir jemand sagen könnte, was hätte ich schon davon? Ich muss eben sehen, dass ich mit meinem Schicksal fertig werde - und damit basta."

Am Sonntagmittag entdeckte das kleine Gespenst auf dem Weg durch die unterirdischen Gänge einen neuen Ausstieg. Wie alle Ausgänge aus dem Höhlengewirr war er mit einem starken, fest in die Felswände eingemauerten Gitter versperrt. Nur dass sich hier wenige Schritte hinter dem ersten Gitter ein zweites und hinter dem zweiten ein drittes befand. Dann kam eine Stahltür mit einem Sicherheitsschloss.
    „Was bedeutet das?", dachte das kleine Gespenst, Das Sicherheitsschloss zu öffnen war eine Kleinigkeit. Ein Wink mit dem Schlüsselbund und der Weg war frei. Er führte durch einen Kohlenkeller geradenwegs in das Rathaus des Städtchens Eulenberg!
    Das kleine Gespenst machte große Augen, als es die Kellertreppe hinaufhuschte und sich plötzlich im Rathaus befand - im Rathaus mit seinen Gängen und
    Amtsstuben, mit der schönen alten Steintreppe und den bunten Glasfenstern im Stiegenhaus, die in der Mittagssonne
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