Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Kind

Titel: Das Kind
Autoren: Sebastian Fitzek
Vom Netzwerk:
das lei chenblasse Kind machte auf ihn einen fast apathischen Eindruck. Doch als Robert sich wieder zu der Liege umwandte, richtete der Junge sich gerade auf und setzte sich, Beine baumelnd, auf deren Kante.
»Ich bin kein Knirps«, protestierte er. »Ich bin schon zehn! Vor zwei Tagen hatte ich Geburtstag.«
Unter einer gefütterten Cordjacke trug das Kind ein schwarzes T-Shirt mit einem aufgebügelten Totenschädel zu nagelneuen, aber nach Sterns Meinung viel zu großen Flickenjeans. Doch was kannte er sich schon aus? Wahrscheinlich war es gerade in Mode, Viertklässlern die Hosenbeine umzuschlagen und ihnen mit Filzstiften bemalte Skateboardturnschuhe anzuziehen.
»Sind Sie Anwalt?«, fragte der Junge etwas heiser. Das Sprechen schien ihm Probleme zu bereiten, als hätte er lange
nichts mehr getrunken.
»Ja, das bin ich. Strafverteidiger, um es genau zu sagen.« »Gut.« Der Junge lächelte, wodurch er erstaunlich gerade und weiße Zähne entblößte. Dieser niedliche Kerl benötigte wahrlich keine Zahnlücke, um das Herz seiner Oma zum Schmelzen zu bringen. Dazu genügten schon seine streichholzlangen dunklen Wimpern und die vollen, leicht aufgesprungenen Lippen.
»Sehr gut«, wiederholte er und stieg vorsichtig von der Liege herunter, wobei er Robert für einen kurzen Moment den Rücken zukehrte. Seine frisch gewaschenen hellbraunen Haare fi elen ihm leicht gelockt bis auf die Schultern, und von hinten betrachtet, hätte er gut und gerne als Mädchen durchgehen können. Robert fiel auf, dass seine Haare im Nacken ein kreditkartengroßes Pflaster überdeckten. Als der Junge sich wieder zu ihm umdrehte, lächelte er immer noch.
»Ich bin Simon. Simon Sachs.«
Er streckte Robert seine zierliche Hand hin, die dieser zögernd schüttelte.
»Schön, und ich bin Robert Stern.«
»Ich weiß. Carina hat mir das Foto von Ihnen gezeigt, das sie in ihrer Handtasche hat. Sie sagt, Sie sind der Beste.« »Danke sehr«, murmelte Stern etwas unbeholfen. Soweit er sich erinnern konnte, war das die längste Unterhaltung, die er seit Jahren mit einem Minderjährigen geführt hatte. »Was kann ich für dich tun?«, fragte er deshalb etwas ungelenk. »Ich brauche einen Anwalt.«
»Alles klar!« Stern sah fragend über seine Schulter zu Carina, die mit unbewegter Miene den Rauch ihrer Zigarette inhalierte. Warum tat sie ihm das an? Weshalb bestellte sie ihn auf ein
Abrissgelände und brachte ihn hier mit einem Zehnjährigen zusammen, obwohl sie wusste, wie wenig er mit Kindern anfangen konnte? Und wie konsequent er sich von ihnen fernhielt, seitdem die Tragödie erst seine Ehe und dann ihn selbst zerstört hatte.
»Und warum, glaubst du, brauchst du einen Anwalt?«, fragte er und schluckte die aufkeimende Wut nur mühsam herunter. Vielleicht entwickelte diese skurrile Situation wenigstens noch einen gewissen Unterhaltungswert für die Sitzungspausen in der Kanzlei.
Stern deutete auf das Pflaster an Simons Nacken. »Ist es deswegen? Hat dir jemand auf dem Schulhof eins übergezogen?«
»Nein. Das nicht.«
»Was dann?«
»Ich habe getötet.«
»Wie bitte?« Stern stellte diese Frage erst nach einer kurzen Pause, fest davon überzeugt, dass diese brutalen Worte nicht aus dem Mund eines Zehnjährigen gekommen sein konnten. Sein Kopf wanderte jetzt wie der eines Zuschauers beim Tennis zwischen Carina und dem Jungen hin und her. So lange, bis Simon es noch einmal wiederholte. Laut und deutlich:
»Ich brauche einen Anwalt. Ich bin ein Mörder.« Irgendwo in der Ferne bellte ein Hund, und das Geräusch mischte sich in das stetige Rauschen der nahe gelegenen Stadtautobahn, doch Stern hörte es genauso wenig wie die harten Regentropfen, die unregelmäßig auf das Blechdach des Krankenwagens ploppten.
»Okay. Du denkst, du hast jemanden umgebracht?«, fragte er, nachdem eine weitere Schrecksekunde vorüber war. »Darf ich fragen, wen?«
»Weiß nicht.«
»Aha, weißt du nicht.« Stern lachte trocken auf. »Und wahrscheinlich weißt du auch nicht, wie, warum oder wo es war, weil das Ganze hier nämlich ein Dummer-Jungen-Streich ist, und …«
»Mit einer Axt«, fl üsterte Simon.
Trotzdem klang es für einen Moment so, als würde er schreien.
»Wie bitte?«
»Mit einer Axt. Auf den Kopf. Von einem Mann. Viel mehr weiß ich nicht. Ist schon lange her.«
Robert blinzelte nervös. »Was heißt lange? Wann war das denn?«
»Am 28. Oktober.«
Der Anwalt sah auf die Datumsanzeige seiner Armbanduhr.
»Das ist heute«, sagte er irritiert. »Eben
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher