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Das Kind der Stürme

Das Kind der Stürme

Titel: Das Kind der Stürme
Autoren: Juliet Marillier
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mich nicht von der Stelle.
    »Also gut, zwanzig. Mach schon.« Er lächelte, ein breites, unwiderstehliches Grinsen.
    Ich lief los, wenn man mein ungeschicktes Hinken überhaupt als Laufen bezeichnen konnte. Wenn ich den Rock mit einer Hand raffte, kam ich einigermaßen schnell voran, obwohl ich wegen des steilen Hangs und der kiesigen Oberfläche aufpassen musste. Aber ich hatte gerade erst den halben Weg zu den Wacholderbüschen zurückgelegt, als ich seine leisen, raschen Schritte hinter mir hörte. Kein Rennen hätte ungleicher sein können, und das wussten wir beide. Darragh hätte die Entfernung in einem Viertel der Zeit zurücklegen können, die ich brauchte. Aber irgendwie erreichten wir die Büsche genau im selben Augenblick.
    »Also gut, Zauberertochter«, sagte Darragh grinsend. »Und jetzt gehen wir langsamer und kommen wieder zu Atem. Morgen wird ein schönerer Tag.«
    ***
    Wie alt war ich damals? Sechs vielleicht, und er ein oder zwei Jahre älter? An dem Tag, als das fahrende Volk das Lager abbrach und sich wieder auf den Weg machte, trug ich den kleinen Ring an meinem Finger; an diesem Tag, an dem ich zum Abschied winken und mit dem Warten anfangen musste. Für Darragh war alles in Ordnung. Er hatte Orte, an die er gehen, Dinge, die er tun konnte, und er war begierig, auf sein Pony zu kommen und sich endlich auf den Weg zu machen. Dennoch, er nahm sich die Zeit, Lebewohl zu sagen, oben auf dem Hügel über dem Lager, denn er wusste, dass ich nicht dorthin gehen würde, wo seine Verwandten ihre Wagen beluden und sich auf die Reise vorbereiteten. Ich war beinahe gelähmt vor Schüchternheit und nicht im Stande, die Blicke der Jungen und Mädchen zu ertragen oder eine Antwort auf Pegs kluge, freundliche Fragen zu finden. Mein Vater war da drunten, eine hoch gewachsene Gestalt in einem Umhang, und sprach mit Dan Walker, gab ihm Botschaften mit, die Dan abliefern, Aufträge, die er ausführen sollte. Alle anderen machten einen großen Bogen um die beiden.
    »Also gut«, sagte Darragh.
    »Also gut«, wiederholte ich in einem Versuch, ebenso lässig zu klingen, und versagte jämmerlich.
    »Macht's gut, Löckchen«, sagte er und streckte die Hand aus, um sanft an einer Locke meines langen Haars zu zupfen, das vom gleichen Rotbraun war wie das meines Vaters. »Wir sehen uns im nächsten Sommer. Pass gut auf dich auf, bis ich wieder da bin.« Das sagte er jedes Mal, wenn er ging – immer das Gleiche. Was mich anging, so brachte ich keine Worte mehr heraus.
    ***
    Die Tage wurden kürzer, und die dunkle Jahreszeit begann. Nachdem Darragh weg war, hatte ich keinen Grund mehr, draußen zu sein, also widmete ich mich meiner Arbeit und versuchte, nicht darauf zu achten, wie kalt es in der Honigwabe war, beinahe kälter als der Herbstwind oben auf dem Hügel. Die Kälte drang schmerzend bis tief in unsere Knochen und verharrte dort wie eine Last. Ich beschwerte mich nie. Vater hatte mir gezeigt, wie man damit zurechtkam, und er erwartete von mir, dass ich das schaffte. Es ist nicht so, dass ein Zauberer die Wärme des Feuers oder das Beißen des Nordwinds nicht spürt. Ein Zauberer ist immerhin auch nur ein Mensch und kein Geschöpf der Anderwelt. Man muss seinem Körper beibringen, damit zurechtzukommen, damit einen das Unbehagen nicht verlangsamt oder ganz und gar unfähig macht, irgendetwas zu tun. Das wiederum hing überwiegend von einer bestimmten Art des Atmens ab. Mehr darf ich darüber nicht sagen. Vater war einmal Druide gewesen. Er sagte, er hätte alles hinter sich gelassen, als er die Bruderschaft verließ. Aber niemand lässt so einfach all diese Jahre von Ausbildung und Disziplin zurück. Ich wusste, dass vieles von dem, was ich lernte, ein Geheimnis war, das man nur mit anderen unserer Art teilen durfte. Man enthüllte es den Unwissenden oder jenen, deren Geist verschlossen war, nicht. Selbst jetzt gibt es noch Dinge, über die ich nicht sprechen kann und darf.
    Es gab viele Kammern in der Honigwabe. Wir benutzten das ganze Jahr lang Lampen, und in dem großen Arbeitszimmer meines Vaters brannten viele Kerzen, denn hier bewahrte er seine Schriftrollen und Bücher auf, groteske und wunderbare Gegenstände in Krügen und kleine Beutel mit durchdringend riechenden Pulvern. Es gab einen mumifizierten Basilisken und einen Becher aus einem gedrehten, gebogenen Horn, dessen Fuß mit roten Steinen geschmückt war. Es gab einen Schädel, so winzig, dass es der eines Leprechauns hätte sein können. Es gab ein
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