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Das Kind der Stürme

Das Kind der Stürme

Titel: Das Kind der Stürme
Autoren: Juliet Marillier
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in allem, was er mich lehrte, lag auch eine verborgene Lektion.
    ***
    »Es ist Zeit zu beginnen«, sagte Vater und betrachtete mich mit strengem Blick. »Das hier wird schwierige Arbeit sein, Fainne. Es könnte notwendig werden, in diesem Sommer deine Freiheit einzuschränken.«
    »Ich – ja, Vater.«
    »Gut.« Er nickte. »Stell dich hier neben mich. Sieh in den Spiegel. Beobachte mein Gesicht.«
    Die Oberfläche war aus Bronze, poliert zu einem hellen Schein. Unsere Abbilder erschienen Seite an Seite; das gleiche Gesicht mit subtilen Unterschieden. Die dunkelroten Locken, die Augen dunkel wie reife Beeren, die helle Haut. Mein Vater sah recht gut aus, wenn auch seine Miene ein wenig abweisend war. Mein Gesicht war das eines Kinds, ungeformt, schlicht, ein kleines, rundes Gesicht. Ich betrachtete mein Spiegelbild mürrisch und schaute dann wieder das Abbild meines Vaters an. Und hielt den Atem an.
    Das Gesicht meines Vaters veränderte sich. Die Nase bog sich ein wenig mehr, das dunkelrote Haar war nun von Weiß durchzogen, die Haut runzlig und fleckig wie ein alter Apfel, der zu lange in der Vorratskammer gelegen hatte. Verblüfft starrte ich ihn an. Er hob eine Hand, und es war die Hand eines alten Mannes, verkrümmt und mager und mit Fingernägeln, die wie die Klauen eines wilden Tiers aussahen. Ich konnte meinen Blick von diesem Bild nicht losreißen.
    »Und jetzt sieh mich an«, sagte er leise, und die Stimme war seine eigene. Ich zwang mich, seitwärts zu schauen, obwohl sich mir bei dem Gedanken, dass der Mann, der nun neben mir stand, diese faltige Hülse meines schönen, aufrechten Vaters sein könnte, das Herz zusammenzog. Und da war er, sah genau so aus wie immer, den Blick auf mich gerichtet, das Haar immer noch lockig und dunkelrot. Ich wandte mich wieder dem Spiegel zu.
    Abermals veränderte sich das Gesicht. Es flackerte einen Augenblick und wurde dann wieder ruhiger. Diesmal war der Unterschied subtiler. Das Haar war ein wenig heller, ein wenig glatter. Die Augen waren dunkelblau, nicht von diesem ungewöhnlichen dunklen Rotbraun wie meine und die meines Vaters. Die Schultern waren etwas breiter, Nase und Kinn ein wenig kantiger als zuvor. Es war immer noch mein Vater, und dennoch war es ein anderer Mann.
    »Diesmal«, sagte er, »wirst du, wenn du dich vom Spiegel abwendest, sehen, was ich dich sehen lassen will. Hab keine Angst, Fainne. Ich bin immer noch ich selbst. Das hier ist ein Zauber, mit dem wir uns zu bestimmten Zwecken umhüllen können. Es ist ein machtvolles Werkzeug, wenn man es geschickt einsetzt. Es geht nicht so sehr darum, das eigene Aussehen zu ändern, sondern die Wahrnehmung der anderen. Die Technik muss mit größter Vorsicht angewandt werden.«
    Als ich diesmal hinsah, war der Mann an meiner Seite der Mann im Spiegel; mein Vater und doch nicht mein Vater. Ich blinzelte, aber er blieb so. Mein Herz schlug heftig, und meine Hände waren kalt.
    »Gut«, sagte Vater leise. »Atme langsam und gleichmäßig, wie ich es dir gezeigt habe. Schieb deine Angst beiseite. Diese Fähigkeit wirst du nicht an einem Tag oder in einer Jahreszeit oder einem Jahr erlernen. Du wirst sehr schwer daran arbeiten müssen.«
    »Warum hast du mich dann nicht schon früher damit anfangen lassen?«, brachte ich hervor, immer noch zutiefst beunruhigt, ihn so verändert zu sehen. Es wäre beinahe leichter gewesen, wenn er sich in einen Hund verwandelt hätte, oder in ein Pferd oder sogar in einen kleinen Drachen, aber nicht das hier – diese nicht ganz richtige Version seiner selbst.
    »Zuvor warst du zu jung. Jetzt hast du das richtige Alter. Und nun komm.« Und plötzlich war er wieder er selbst. Es geschah so schnell wie ein Fingerschnippen. »Ein Schritt nach dem anderen. Benutze den Spiegel. Wir fangen mit den Augen an. Konzentriere dich, Fainne. Atme aus dem Bauch. Sieh in den Spiegel. Schau den Punkt zwischen deinen Brauen an. Gut. Und nun zwinge deinen Körper, ganz ruhig zu sein … schiebe dein Bewusstsein darüber, dass die Zeit vergeht, beiseite … Ich werde dir ein paar Worte geben, die du zunächst benutzen kannst. Mit der Zeit wirst du lernen, auch ohne den Spiegel und ohne die Rezitation zu arbeiten.«
    Bis der Abend kam, war ich erschöpft. Mein Kopf war so leer wie ein trockener Kürbis, mein Körper kalt und feucht vom Schweiß. Wir setzten uns einander gegenüber auf den Steinboden und ruhten uns aus.
    »Woher soll ich wissen«, fragte ich ihn, »ob das, was ich sehe, Wirklichkeit
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