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Das katholische Abenteuer - eine Provokation

Das katholische Abenteuer - eine Provokation

Titel: Das katholische Abenteuer - eine Provokation
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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Abteil, ich fühle mich verantwortlich. Soll ich sie ansprechen, oder wäre ich dann Eindringling? Ich bin müde. Will ich mich wirklich auf eine lange Unglückserzählung einlassen? So was gibt es doch nur bei Tolstoi, und da sind die Bahnfahrten lang, und man vertreibt sich die Zeit mit weitschweifigen Erzählungen von untreuen Ehefrauen und Mördern und Skandalen aus dem fernen Moskau.
    Wieder schluchzt sie und seufzt. Ich räuspere mich und spreche sie an.
    »Sie müssen sehr unglücklich sein«, sage ich.
    Sie schaut überrascht auf.
    »Kann ich etwas tun?«, frage ich.

    Da lächelt die Frau. Und jetzt erst sehe ich: Sie strahlt, sie sieht selig aus.
    »Nein«, sagt sie, »ich bin sehr glücklich.«
    »Ich dachte…«
    »Ich fahre zu meiner Hochzeit«, sagt die Frau.
    Sie kommt aus Basel und wird in Hannover von ihrem zukünftigen Bräutigam abgeholt. Sie wird die Familie kennenlernen, wird die Stadt sehen, in der sie wohnen wird, die Zugreise ist eine ins Unbekannte, und sie wird von nichts getragen als von der Liebe und einem großen Versprechen.
    Das Buch, in dem sie liest? »Das Hohelied der Liebe. Paulus, der Korintherbrief. Er ist so schön.« Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, sie lässt sich nicht erbittern, und es war offensichtlich, dass dieses Mädchen, diese junge Frau begriffen hatte, was Liebe ist. Sie strahlte Liebe aus.
    »Ich wünsche Ihnen alles Gute«, sagte ich, nicht ohne ein bisschen erleichtert zu sein darüber, dass ich nicht in ein Drama hineingezogen wurde, das meine Möglichkeiten zur Hilfe übersteigen könnte. Ich hatte völlig schiefgelegen. Was ich erlebt hatte, war eine Entgrenzung ins Glück, eine Entgrenzung der Liebe und des Glaubens, die so heftig war, dass sie die junge Frau sichtbar erschütterte.
    Fromme Ekstasen sind selten geworden. In den Zügen der deutschen Bahn kommen sie wohl nie vor. Im Übrigen sind sie auch in unseren Kirchen selten. Das war mal anders. Immer wieder berichtet der heilige Augustinus in seinen Bekenntnissen von solchen seelischen Ausnahmezuständen. »Wie weinte ich unter deinen Hymnen und Gesängen, gar tief bewegt vom süßen Klang der Stimmen deiner Kirche. Ach, diese Stimmen drangen in mein Ohr und gossen deine Wahrheit in mein Herz, und meine Frömmigkeit erglühte unter deinem Hauch, und meine Tränen flossen, und mir ward wohl bei ihnen.«
    So steht es in den Confessiones . Sie sind ein bisschen wortreicher, aber Augustinus meinte das Gleiche wie die junge Frau, die über den Korintherbrief sagte: »Er ist schön.« Und weinte.
    Echter Glaube geht mit Erschütterungen einher. Er hat mit Gefahr zu tun, mit Risiko. Kierkegaard hat vom »Sprung« in den Glauben geschrieben, vom Sprung in die Paradoxie. Und er hat jenen gutbürgerlichen, gesättigten Bischof Martensen verachtet, der ein Christentum predigte, das sich mit der Behaglichkeit und Berechenbarkeit vertrug, ein staatsgestütztes Christentum, dem jeder zunicken konnte.
    In der Artikelserie »Der Augenblick« griff er ihn an: »Wahrhaftig gibt es etwas, was dem Christentum und dem Wesen des Christentums heftiger zuwider ist als jegliche Ketzerei, jegliche Spaltung, heftiger zuwider ist als alle Ketzereien und Spaltungen zusammen, und das ist: Christentum zu spielen.«
    Die Charismatiker vom Prenzlauer Berg
    Die junge Rosalie und ihr Mann Konrad sind ganz sicher keine, die das Christentum spielen. Ich treffe sie in der Berliner Herz-Jesu-Gemeinde am Prenzlauer Berg. Wir haben uns zum Adventsgottesdienst verabredet. Die Herz-Jesu-Kirche ist ein prächtiger Bau vom Ende des 19. Jahrhunderts, innen ausgestaltet mit Mosaiken und Goldmalereien im frühchristlich-byzantinischen Stil, zur DDR-Zeit heruntergekommen, seit einigen Jahren aufwendig renoviert.
    Die Gerüste stehen noch. In der Kirche über 300 meist junge Leute, Studenten, Künstler, Bohème mit ihren Kindern, das ist enorm. Sie ist untypisch auch insofern, als Ost und West, Alt und Jung hier zusammenkommen.
    Hinten steht Wolfgang Thierse. Nach dem Schlusssegen spreche ich ihn an, den Bundestagspräsidenten, der in der DDR groß wurde. »Schwere Zeiten für die katholische Kirche«, sage ich. »Von der Volksreligion zur Entscheidungsreligion.«
    »Ach wissen Sie«, sagt er, »im Osten waren wir immer schon Entscheidungsreligion.«

    Rosalie und Konrad haben sich entschieden. »Wenn Gott in deinem Leben ist, ändert sich alles«, sagt sie, und es klingt wunderbar schlicht. Sie ist eine stolze,
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