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Das Kastanienhaus

Das Kastanienhaus

Titel: Das Kastanienhaus
Autoren: Liz Trenow
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lasse, Mrs. Verner? «
    Mutter servierte den Tee, und während wir uns unterhielten, stellte ich fest, wie sehr John sich verändert hatte, wie weltmännisch er geworden war. Vera schien es ebenfalls zu bemerken. Sie lächelte ihn öfter an als wirklich nötig und kicherte sogar über die lahmsten seiner Witze.
    » Warum bist du so früh zurück? « , fragte Vater. » Ich hoffe sehr, du hast das Semester ordentlich abgeschlossen? «
    » Keine Sorge, ich bin mit allen meinen Prüfungen durch « , sagte John fröhlich. » Ehrlich. Ich habe an der Hochschule so viel gelernt und kann es gar nicht erwarten, mich in die Praxis zu stürzen. «
    Vater nickte erfreut, runzelte jedoch missbilligend die Stirn, als John seinen Tee schlürfte – seine Manieren schienen sich in der Schweiz nicht gerade verbessert zu haben.
    » Was ist mit deinen Zeugnissen? « , wollte er wissen.
    » Sie schicken sie mir zu. Ich bin nicht durchgefallen oder rausgeflogen, wenn du das denkst. Nein, ich war ein Musterschüler, haben sie gesagt. «
    » Trotzdem verstehe ich das nicht, John « , beharrte Vater. » Das Semester sollte bis Ende des Monats gehen. « John schüttelte den Kopf, den Mund voller Kuchen. » Warum bist du also früher weggefahren? «
    » Noch jemand Tee? « , fragte Mutter, um das unbehagliche Schweigen zu überbrücken. » Ich setze rasch den Kessel auf. «
    Als sie sich erhob, murmelte John vor sich hin: » Um ehrlich zu sein: Ich wollte nach Hause zurück. «
    » Deswegen musst du dich doch nicht schämen, mein Junge « , sagte sie. » Wir alle bekommen manchmal Heimweh. «
    » Das ist es nicht « , antwortete er mit ernster Stimme. » Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie man sich dort im Augenblick fühlt. Was da drüben alles passiert, vor allem in Österreich. «
    » Was genau meinst du damit? « , fragte ich mit unfreiwilligem Schaudern.
    » Heraus mit der Sprache, Junge « , ergänzte Vater schroff. » Erklär das mal genauer. «
    John stellte Teller und Tasse ab, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schaute aus dem Fenster in die wundervolle Constable-Landschaft. Mutter hielt inne, die Kanne in der Hand, und wir alle warteten.
    » Es ist so « , fing er an und wählte seine Worte mit Bedacht. » Wir waren ein paarmal in Österreich – ihr wisst ja, zum Skifahren. Habt ihr meine Postkarte bekommen? «
    Mutter nickte. » Sie hat einen Ehrenplatz auf dem Kaminsims bekommen « , sagte sie.
    » Damals schien die Welt dort noch in Ordnung zu sein. Dann waren wir vor einigen Wochen erneut in Wien, um verschiedene Webstuhlfabriken zu besichtigen. Unter anderem die der Fischers. Der Sohn des Besitzers, Franz, hat uns herumgeführt. «
    » Ich erinnere mich an Herrn Fischer. Wir haben hin und wieder bei ihm Maschinen gekauft. Ein guter Mann « , sagte Vater. » Wie geht es ihnen? «
    » Erst klang es bloß so, als würden die Geschäfte etwas schleppend laufen – Franz machte ein paar vage Bemerkungen. Draußen aber, als niemand zuhörte, fragte ich ihn direkt, was los sei. Erst wollte er nicht raus mit der Sprache, doch schließlich flüsterte er mir zu, dass sie gezwungen würden, die Fabrik zu verkaufen. «
    » Gezwungen? « , fragte ich. » Wer kann die Fischers dazu zwingen? «
    » O ja, sie können. Im Großdeutschen Reich, wie das jetzt heißt, sind Juden völlig rechtlos. Und die Fischers sind Juden « , sagte John. » Die Nazis haben schon vor Jahren entsprechende Gesetze erlassen und sie immer mehr verschärft. Mittlerweile dürfen Juden keine Fabriken und keine Läden mehr besitzen, dürfen nicht mehr als Ärzte. Lehrer oder Rechtsanwälte tätig sein. Es sei denn in jüdischen Organisationen. «
    » Ja, ich habe darüber gelesen, das ist wirklich ungeheuerlich « , meinte Vater. » Nur ist es noch einmal eine andere Sache, wenn man von einem konkreten Fall hört.
    » Die Fischers hoffen, dass sie ungeschoren davonkommen, solange sie sich ganz ruhig verhalten « , sagte John, während ich das Gehörte nicht zusammenbrachte mit meinem Bild von Wien. Wie konnte so etwas in einer Stadt passieren, in der man weißen Pferden das Tanzen beibrachte und in Walzerseligkeit schwelgte.
    » Meinst du, wir können etwas für sie tun? « , fragte Mutter. Ihr erster Impuls bestand immer darin, jedem zu helfen, der in Schwierigkeiten steckte.
    » Ich bin mir nicht sicher. Franz meinte, die Entwicklung sei nicht mehr aufzuhalten und besser werde es bestimmt nicht. Es ist für ihn und seine Familie ziemlich beängstigend, weil
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