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Das Karpatenschloß

Das Karpatenschloß

Titel: Das Karpatenschloß
Autoren: Jules Verne
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drei über dem starken
    Stamm ... nur noch drei, alte Burg ... nur noch drei lebende
    Äste!«
    Stellt man sich einen Hirten von seiner idealen Seite vor,
    so erscheint er einem gewöhnlich als Denker oder Träumer;
    er unterhält sich mit den Planeten; er spricht mit den Ster-
    nen und versteht sich darauf, die Schrift des Himmels zu
    lesen. In Wirklichkeit ist er im allgemeinen ein unwissen-
    der, vernagelter Bursche. Trotzdem dichtete ihm die Leicht-
    gläubigkeit so oft übernatürliche Fähigkeiten an; er versteht
    sich auf Hexerei je nach Laune; er wendet Verzauberungen
    durch Besprechen ab oder verzaubert selbst Mensch und
    Tier – was in diesem Fall ja fast aufs gleiche hinausläuft;
    er handelt mit sympathetischen Pülverchen; man kauft von
    ihm Liebestränke und Zaubersprüche. Ja, es geht so weit,
    daß er die keimende Frucht der Ackerfurche tötet, indem
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    er verhexte Kieselsteine hineinwirft, oder daß er die Schafe
    unfruchtbar macht, indem er sie mit dem linken Auge an-
    sieht. Ein derartiger Aberglaube findet sich in allen Län-
    dern und fand sich zu allen Zeiten. Selbst in zivilisierteren
    Ländern gehen gar viele Leute nicht an einem Schäfer vor-
    über, ohne diesem ein paar freundliche Worte zuzurufen,
    ohne ihm einen hergebrachten Gruß zu bieten, indem er
    speziell »Hirt« genannt wird, worauf der Mann besonderen
    Wert legt. Ein Abnehmen des Hutes schützt bereits gegen
    manches Übel, und in Transsilvanien ist man deshalb damit
    nicht sparsam.
    Frik wurde nun als ein solcher Hexenmeister betrach-
    tet, der Geistererscheinungen hervorzuzaubern vermochte.
    Nach Aussage der einen gehorchten ihm die Vampire und
    die Stryges; nach der anderer konnte man ihn bei abneh-
    mendem Mond in halbfinsteren Nächten, wie in anderen
    Gegenden das Gespenst des Großen Schalttags, auf dem
    Schutzdach von Mühlrädern reiten sehen, von wo aus er
    mit den Wölfen schwatzte oder träumerisch zu den Sternen
    hinaufstarrte.
    Frik ließ die Leute reden, denn er stand sich ganz gut
    dabei. Er verkaufte Zaubermittel ebenso wie Schutzmittel
    dagegen. Doch war er, wohl zu bemerken, nicht weniger
    gläubig als seine Kundschaft, und wenn er vielleicht auch
    an seinen eigenen Zauberkräften zweifelte, so galt ihm doch
    der Inhalt der landläufigen Sagen als unbestreitbare Wahr-
    heit.Hiernach kann es nicht Wunder nehmen, daß er sich
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    jene, das baldige Verschwinden der Burg betreffende Vor-
    hersage zurechtlegte – da die Schicksalsbuche jetzt bis auf
    drei Äste zusammengebrochen war – und daß er sich be-
    eilte, diese Neuigkeit in Werst bekanntzugeben.
    Nachdem er also seine Herde zusammengerufen hatte,
    indem er mit vollen Backen eine aus weißem Holz ge-
    schnitzte Schäferpfeife anblies, schlug Frik den Heimweg
    zum Dorf ein. Die Tiere in Ordnung haltend, folgten ihm
    seine Hunde – zwei Terrierbastarde, bissige, wilde Köter,
    die mehr geschaffen schienen, Lämmer zu zerfleischen als
    sie zu beschützen. Die Herde bestand aus etwa 100 Wid-
    dern und Schafen; darunter etwa einem Dutzend Läm-
    mern, sonst aber aus 3- bis 4jährigen Tieren mit vier und
    mit sechs Zähnen.
    Diese Herde gehörte dem Ortsrichter von Werst, dem
    Biró Koltz, der der Gemeinde einen tüchtigen Weidepacht
    bezahlte und seinen Schäfer Frik hoch schätzte, weil er ihn
    als ebenso brauchbar bei der Schur, wie erfahren in der Be-
    handlung der Schafkrankheiten, der Drehkrankheit, des Le-
    berwurms, der Trommelsucht, der Pocken, der Unfrucht-
    barkeit und anderer ähnlicher Störungen kannte.
    Die Tiere zogen in geschlossenen Haufen dahin, voran
    der Leithammel mit der Glocke und ein altes Mutterschaf
    mit Schellenhalsband, die beide inmitten des Geblöks »den
    Ton angaben«.
    Vom Weideplatz aus schlug Frik einen breiten, von aus-
    gedehnten Feldern umgebenen Fußweg ein. Hier wogten
    die prächtigen Halme eines Getreides, das ebenso hoch im

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    Stroh, wie lang in den Ähren war; dort wucherten üppige
    Kulturen von »Kukuruz«, dem Mais des Landes. Der Weg
    führte zum Saum eines aus Fichten und Tannen bestehen-
    den Waldes, der in seinem Schatten erquickende Kühle bot.
    Weiter unten schlängelte sich das spiegelnde Band der Sil
    hin, deren Wasser sich an den Kieseln des Grundes klärte,
    und auf der Stämme und Klötze aus den stromaufwärts lie-
    genden Sägemühlen hinabschwammen.
    Hunde und Schafe machten am rechten Ufer des Flusses
    halt und stillten gierig ihren Durst am steilen Rand,
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