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Das Känguru-Manifest

Das Känguru-Manifest

Titel: Das Känguru-Manifest
Autoren: Marc-Uwe Kling
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unbewusst nahelegen, dass du bereit wärest, weiter drüber wegzusehen, dass ich nie putze, wenn ich weiter drüber wegsehen würde, dass du immer zu spät kommst. Nur deswegen hast du das Vorwurfs-Karussell angeworfen.«
    »Das was?«
    »Das Vorwurfs-Karussell ist das treibende Prinzip unserer Gesellschaft. Wenn irgendwo irgendetwas schiefläuft, hauen sich alle Beteiligten danach so lange zusammenhangslos Vorwürfe um die Ohren, bis allen schwindelig ist und sie wieder aus dem Karussell hinaustorkeln, und zwar genau da, wo sie eingestiegen sind, nur dass ihnen jetzt auch noch schlecht ist.«
    »Ach, du meinst die Trockner-Theorie?«, fragt das Känguru. »Unzählige Umdrehungen in Höchstgeschwindigkeit produzieren kein Ergebnis außer heißer Luft?«
    »Und du bist ein Hochleistungstrockner«, sage ich.
    »Immerhin bin ich nicht vor der Aktionärsversammlung der Sparkasse aufgetreten«, sagt das Känguru.
    »Das war weder eine Aktionärsversammlung noch die Sparkasse«, rufe ich. »Das war ein Poetry-Slam-Workshop für die mittlere Verwaltungsebene der Deutschen Bank. Das weißt du genau, und dass ich etwas tue, heißt noch lange nicht, dass ich damit einverstanden bin, und außerdem hat das verdammt noch mal nichts damit zu tun, dass du ständig zu spät kommst.«
    »Entschuldigen Sie bitte«, sagt eine teuer eingekleidete Frau mit Dauerwelle, die am Nebentisch sitzt. »Könnten Sie sich bitte leiser unterhalten. Sie stören die anderen Gäste.«
    »Ah ja?«, fragt das Känguru. »Immerhin trage ich keinen Pelzmantel. Also jedenfalls keinen fremden. Also keine toten Tiere.«
    Fassungslos wendet sich die Dauerwelle an ihren dicken Mann. »Wie wäre es, wenn du mal Partei für mich ergreifen würdest?«
    »Wie wäre es, wenn du dich mal nicht immer überall einmischen würdest«, sagt der Dicke.
    »So? Wer von uns hat denn wen betrogen?«
    Wütend wirft der Dicke den Zuckerstreuer auf die Motorhaube eines parkenden Autos. Ein Mann im Anzug eilt herbei.
    »Was fällt Ihnen ein, Ihren Frust an meinem Auto auszulassen!«, ruft er.
    »Was fällt Ihnen ein, im Halteverbot zu parken!«, ruft die Dauerwelle.
    »Ich habe dir doch gesagt, du sollt hier nicht parken«, sagt eine Frau im Abendkleid zum Mann im Anzug.
    »Es ist ganz allein deine Schuld, dass Tristan Drogen nimmt«, sagt der Anzug.
    Ein Polizist kommt hinzu.
    »Herr Wachtmeister! Dieser Dicke hier hat einen Zuckerstreuer auf das Auto meines Mannes geworfen!«, sagt das Abendkleid.
    »Besser dick als doof«, sagt die Dauerwelle.
    »Sie stehen hier im Halteverbot!«, sagt der Polizist.
    »Immerhin bin ich nicht Polizist geworden!«, sagt der Anzug.
    »Ein wahres Wort«, sagt der Dicke.
    »Immerhin trägt meine Frau keine toten Tiere!«, sagt der Polizist.
    Ein Fahrradfahrer rast fast in die Menge.
    »Runter vom Fahrradweg!«, ruft er.
    »Sie haben kein Rücklicht!«, ruft die Dauerwelle.
    »Du hast doch Tristan verboten, mit Puppen zu spielen«, sagt das Abendkleid. »Ich wollte ja sowieso lieber eine Katze.«
    Heimlich stehlen wir uns davon.
    »Tut mir leid, dass ich zu spät gekommen bin«, sagt das Känguru, als wir zu Hause ankommen. »Und dass ich die Tickets vergessen habe. Entschuldigung.«
    »Na also«, sage ich und atme tief durch.
    »Aber du könntest echt mal wieder das Bad putzen«, sagt das Känguru.
    »Außerdem hast du mein Jo-Jo kaputtgemacht!«, rufe ich.
    »Und du hast mein Tagebuch gelesen!«
    »Round and round and round it goes
where it stops nobody knows …«

Seit geraumer Zeit sitze ich in der Eckkneipe »Bei Herta« an der Theke auf einem Barhocker und warte.
    »Es jibt sone und solche, und dann jibt es noch janz andre, aba dit sind die Schlimmstn«, sagt Herta, »wa?«
    »Mhm«, sage ich.
    Aus der Musicbox leiert »I’ve been looking for freedom«. Ich habe das Lied gewählt. Es ist das beste der Sammlung.
    »Arbeiten macht Spaß. Aba acht Stunden Spaß kann ick einfach nich vatrang«, sagt Herta, »wa?«
    »Ich hätte gerne noch so ’nen viel zu starken Filterkaffee mit Kondensmilch bitte«, sage ich.
    »Mit ’nem Eima Wasser wischt se dit janze Haus, und wenn noch Wasser übrich is, denn kocht se Kaffe draus«, sagt Herta, »wa?«
    »Mhm«, sage ich.
    Endlich setzt sich das Känguru neben mich an den Tresen und sagt: »Ich habe absolut keinen akzeptablen Grund dafür, dass ich zu spät bin.«
    »Äh … aha …«, sage ich.
    »Es tut mir ein bisschen leid, aber ich werde deshalb nicht schlecht schlafen.«
    »Äh … schon okay«,
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