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Das Känguru-Manifest

Das Känguru-Manifest

Titel: Das Känguru-Manifest
Autoren: Marc-Uwe Kling
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den Frühstückstisch.
    Ich nehme einen Schluck von meinem Kakao und spucke ihn wieder in die Tasse.
    »Bäh«, sage ich. »Ist das Sojamilch?«
    »Ja, die habe ich letzte Woche gekauft«, sagt das Känguru, »als du dir eingeredet hast, an Laktoseintoleranz zu leiden.«
    Ich kippe den Sojamilch-Kakao weg.
    »Na ja«, sage ich. »Ich sollte eh keine Schokolade trinken, mit meiner Histaminunverträglichkeit.«
    »Du hast echt voll den Schaden«, sagt das Känguru.
    »Nee, das ist nur wegen meinem Kopf.«
    »Ja, genau. Das meinte ich.«
    »Nein, nein«, sage ich. »Das ist kein Quatsch. Ich habe doch immer wieder diese mysteriösen Kopfschmerzen, und jeder von meinen sieben Ärzten sagt mir, das könne an allem Möglichen liegen, und ich solle mehr Sport machen, aber wenn ich mehr Sport machen wollen würde, würde ich doch nicht zum Arzt gehen, sondern ins Fitnessstudio. Dabei fällt mir ein, ich habe mir noch einen Grabsteinspruch ausgedacht: ›Meine Ärzte hielten mich fit. Ich musste immer von einem zum anderen rennen.‹«
    Das Känguru gähnt. Eine Weile lang frühstücken wir schweigend vor uns hin.
    »Wer legt das überhaupt fest, was produktiv und was unproduktiv ist?«, fragt es schließlich.
    »Du meinst: Ist Prinzessin-Lillifee-Schminksets für Dreijährige herzustellen wirklich produktiv?«, frage ich.
    »Ja«, sagt das Känguru. »Und könnte man Landminen- Produzieren nicht sogar als kontraproduktiv bezeichnen?«
    »Ich wette, es gibt sogar Leute, die produzieren Landminen, die aussehen wie Prinzessin-Lillifee-Schminksets«, sage ich, »und erfreuen sich dabei ihrer Produktivität.«
    »Und ist in der Hängematte liegen und seinen Gedanken nachhängen nicht vielleicht total produktiv?«, fragt das Känguru.
    »Meistens nicht«, sage ich.
    »Nee«, sagt das Känguru.
    »Aber schaden tut’s auch nichts«, sage ich. »Und das ist schon mehr, als man von den meisten anderen Tätigkeiten behaupten kann.«
    »Wem erzählst du das?«, fragt das Känguru. »Meine Not-to-do-Liste könnte ich als mehrbändigen Ratgeber veröffentlichen.«
    »Kannst du dich an das Ende von Pu der Bär erinnern?«, frage ich.
    »Wieso?«
    »Am Schluss, als sich Christopher Robin an jenem verzauberten Ort von seinem Bär verabschiedet, ohne dass der Bär von sehr geringem Verstand dies begreift, da fragt er ihn: ›Was tust du am liebsten von der ganzen Welt, Pu?‹ und antwortet selbst: ›Was ich am liebsten tue, ist gar nichts.‹«
    »Also so detailliert kann ich mich nicht erinnern«, sagt das Känguru.
    »Und dann sagt Christopher Robin: ›Ich werde nicht mehr gar nichts tun.‹ Und Pu fragt: ›Nie wieder?‹ Und Christopher Robin sagt: ›Kein bisschen. Sie lassen einen nicht.‹ Da musste ich jedes Mal weinen«, sage ich.
    »Darf ich dir hierzu eine Stelle aus meinem Manifest vorlesen?«, fragt das Känguru und zieht den altbekannten Stapel bekritzelter Blätter aus seinem Beutel.
    »Nur wenn ich dir danach eine Idee für ’ne Geschichte erzählen darf«, sage ich. Das Känguru zögert kurz. Dann nickt es. Es liest: »Die totale Fokussierung darauf, dass produziert wird und das völlige Desinteresse daran, was produziert wird, ist leider nicht nur für die Kapitalisten, sondern auch für die Arbeiter bezeichnend. Als sich die Arbeiterbewegung das ›Recht auf Arbeit‹ auf die Fahnen schrieb, hatte sie schon verloren. Seit die Arbeiter Arbeit fordern statt so wenig Arbeit wie möglich, blieb ihre Kritik systemimmanent und damit in einem befreienden Sinne wirkungslos.«
    Das Känguru legt sein Manuskript zur Seite.
    »Jetzt du«, sagt es.
    »Die Geschichte soll heißen Krause gegen das System «, sage ich. »Es geht um Krause, einen Mann, der gerade in Rente gegangen ist. Er hat in einer Behörde gearbeitet und Zahlen in andere Zahlen umgerechnet. Als er nach seinem letzten Arbeitstag zu Hause im Bett liegt, fällt ihm auf, dass er ausgerechnet an diesem Tag einen schweren Fehler gemacht hat. Als er nach dem Wochenende wieder in die Behörde geht, um den Fehler zu korrigieren, muss er feststellen, dass es seine Abteilung nicht mehr gibt. Er beginnt zu verstehen, dass seine Stelle nur eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme war. Er begreift, dass er jahrzehntelang nur vom Computer ausgespuckte Zufallszahlen umgerechnet hat. Dann läuft Krause Amok.«
    »Könnte man einen witzigen Rentner-Splatterfilm draus machen«, sagt das Känguru.
    »Ein sträflich vernachlässigtes Genre«, sage ich.
    Ich nehme mir das Brot und schneide
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