Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Kabinett der Wunder

Titel: Das Kabinett der Wunder
Autoren: Marie Rutkoski
Vom Netzwerk:
Höhlenfledermaus! Bodeneichhörnchen!« Sein funkelnder Körper vibrierte beim Schreien.
    Petra rieb sich den Schlaf aus den Augenwinkeln. »Nur weil du gestern Abend aufgeblieben bist und ein Buch über Tiere gelesen hast, die Winterschlaf halten, brauchst du jetzt nicht so angeben.«
    Astrophil verschränkte seine beiden Vorderbeine in perfekter Imitation eines Schulmeisters. »Genau genommen halten Faultiere keinen Winterschlaf. Sie sind nur sehr, sehr faul.«
    »Hmm.« Obwohl die Morgensonne bereits das Zimmer
erwärmte, kuschelte sich Petra unter ihr Leintuch. »Ich wette, sie sind auch dumm.«
    »Oh ja.«
    »Die Sorte von Tieren, die überhaupt nichts kapieren.« Petra gähnte und schloss die Augen.
    »Also …« Astrophil entließ seine Beine wieder aus der steifen Haltung. »Es gibt allerdings ein ganz seltenes Faultier, das gefleckte Angolafaultier, von dem man weiß, dass es ziemlich schnell von Begriff ist.«
    Petra lag still da.
    »Und sehr großzügig.«
    Vom Bett kam keine Antwort.
    »Und leicht zu rühren vom inständigen Flehen seiner Freunde«, fügte Astrophil hinzu.
    Petra drehte sich um, den Rücken nun zu Astrophil gewandt.
    »Das gefleckte Angolafaultier ist außerdem umsichtig, vor allem bei der Aussicht, eines Morgens aufzuwachen und zu merken, dass klebrige metallische Spinnweben sein ganzes Gesicht überziehen.«
    »Ein fürchterliches Schicksal.« Petra schlug das Laken zurück und schlüpfte aus dem Bett. Das Gackern der brütenden Hennen drang durch das eine große Fenster. Ein Hahn musste schon früher an diesem Morgen einige Male gekräht haben, was aber Petras festen Schlaf nicht hatte stören können. Sie strich ihr zerzaustes Haar zurück, das sie hartnäckig gegen den wiederholten Wunsch ihrer erwachsenen Cousine Dita verteidigte: es zu etwas zurechtzukämmen, das ordentlich erscheinen könnte. Petras Augen waren
grau - oder, um genauer zu sein, sie waren silbrig, als seien sie aus flüssigem Metall, das in einem hellen Kreis um das schwarze Zentrum gelegt worden war. Sie sahen genauso aus wie die Augen ihres Vaters. Überhaupt sah sie ihm sehr ähnlich, was ihr meistens auch gefiel.
    Sie ging zu einem Brett an der weißen Wand zwischen einer Ecke und einem rechteckigen Vorsprung, dem Kamin, der von der Küche im unteren Stockwerk ausging. Das rohe Holzbrett war übersät mit Flaschen, schweren Papierbögen, ein paar geborstenen Gänsefedern und einem kleinen Kasten in der Form und glänzend braunen Farbe einer Rosskastanie. Er war aus Holz und hatte einen Deckel mit Scharnieren. Petra nahm den Kasten und eine Flasche herunter.
    Astrophil schoss einen glänzenden Faden quer durch den Raum, der sich neben dem Brett an der Wand verankerte. Mit einem Schwung schleuderte er sich mehrere Fuß weit und hockte sich dann auf die Brettkante.
    Petra zog den Stöpsel aus der Flasche, klappte den Rosskastanienkasten auf und nahm einen winzigen Löffel heraus, in den sie dickes grünes Rapsöl goss. Mit einem entzückten Geräusch trank Astrophil aus dem Löffel. Nachdem er sich das Öl einverleibt hatte, vertiefte sich die Farbe seiner Augen und sie begannen zu glühen.
    »Also«, sagte Petra, »wenn du hungrig bist, müssten es die anderen auch sein.«
    Astrophil kroch schnell an ihrem Arm hoch und grub seine Füße, die sich durch ihr dünnes Sommernachthemd bohrten, in ihre Schulter.

    »Au!«
    Wenn sie erwartet hatte, dass Astrophil sich entschuldigen würde - so dachte er gar nicht daran.
    »Übrigens«, sagte er, »ich habe gestern Abend kein Buch gelesen.«
    »Aha?« Petra machte die Zimmertür hinter sich zu und polterte unnötig laut die Treppe hinunter. Die Spinne hopste auf und nieder. Sie waren im ersten Stock angelangt. Von unten kam ein surrendes, rasselndes Geräusch. »Und woher weißt du dann plötzlich so viel über Zoologie?«
    »Ich hab Kleinzeug gelesen«, sagte er und bezog sich dabei auf die Hefte, die sich in Vaters Bibliothek stapelten. »Du weißt doch, ich kann nur Seiten umblättern, nicht diese schweren ledernen Bucheinbände. Bücher müssen schon aufgeschlagen sein, allein kriege ich sie nicht auf.«
    Petra rannte durch den Flur und sprang dann eine weitere Treppe nach unten. Astrophils Haltegriff verstärkte sich. Das surrende Geräusch wurde noch lauter.
    »Wenn jemand nicht daran denkt«, sagte Astrophil, »die wunderbaren großen Bücher für eine arme schlaflose Spinne herauszunehmen und aufzuschlagen, was bleibt der armen schlaflose Spinne denn dann anderes
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher