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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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eine lange Ballade, in der ein Mädchen am Ufer ein Taschentuch schwenkt, während sie vom Meer aus eine Nymphe mit einem runden Spiegel in der Hand und einem Kamm im grünen Haar ruft. Und alle beide wollen sie den schönen Kapitän gewinnen.
    Nasar streckte sich im Gras aus, den Kopf auf Ywhas Schenkel gebettet. Sein Vater öffnete ungeniert die nächste Flasche, stürzte in einem Zug ein halbes Glas herunter und intonierte ein Lied aus seiner Studentenzeit. Ywha hätte gern in den Gesang eingestimmt, doch da sie weder den Text noch die Melodie kannte, öffnete und schloss sie lediglich den Mund – wie ein Fisch. Nach einer Weile mischte sich ein Motor, der in der Ferne brummte, in die zarte Melodie.
    »Wir bekommen Besuch«, meinte Nasar träge.
    Ywha verkrampfte sich. Sie mochte weder Neuigkeiten noch Veränderungen oder ungebetene Gäste, ja, nicht einmal angenehme Überraschungen. Schon gar nicht jetzt, da sich ihre innere Anspannung gerade löste und sie in ihrem Glück dahinschmolz wie Schokolade in der Hand. Ihr fehlte jede Kraft, ihr brüchiges inneres Gleichgewicht zu verteidigen. Ein Neuankömmling stellte einen Angreifer dar, der ungebeten in ihre Welt eindrang, gerade als nach vielfältigen Schwierigkeiten Ruhe und Ordnung darin einkehrten.
    Eine Ruhe auf tönernen Füßen. In der Ferne brauchte nur ein Motor zu brummen – und schon verflüchtigte sich jede Ruhe.
    Voller Bedauern hob Nasar seinen Kopf von ihrem Schoß und stand auf. »Pa«, wandte er sich mit einem strahlenden Lächeln an seinen Vater, »hat Klawdi ein neues Auto? Einen grünen Graf mit Antenne?«
    Sofort legte der Schwiegervater die Mandoline beiseite. »Klaw?! Ich werd verrückt … Ihr werdet sehen, Kinderchen, jetzt werden wir bis morgen früh höchst vergnügt zusammensitzen!«
    Ywha hüllte sich in Schweigen. Die anderen durften ihre Enttäuschung nicht bemerken. Offenbar kam da ein alter Freund. Bestimmt erwarteten sie von ihr, dass sie sich freute. Schließlich hätte die Ankunft eines unangenehmen, unsympathischen Menschen den Schwiegervater ja wohl kaum in eine solche Begeisterung versetzt. Und auch Nasar würde sonst nicht am Tor herumalbern, dem Mann hinter dem Steuer wie ein Verkehrspolizist salutieren und dann wie ein kleiner Junge rittlings auf dem sich schließenden Eingangsgitter hocken.
    Ihr Schwiegervater hielt die Mandoline jetzt wie eine Pistole im Anschlag. »Pass auf, Rote, gleich lernst du jemand ganz Besonderen kennen … Was ist denn mit dir, Rote?«
    Gemächlich fuhr das grüne Auto auf den Hof, so akkurat und höflich, als sei es ein lebendiges und gut erzogenes Wesen. Die abgeblendeten Scheinwerfer wirkten auf Ywha jedoch eher wie die trüben Augen eines Monsters. Das Brot blieb ihr im Hals stecken, ließ sich weder schlucken noch ausspucken. Aus den Tiefen ihres Körpers stiegen Übelkeit und Schmerz auf. Sie kannte dieses Gefühl – nur war es damals, beim ersten Mal, entschieden schwächer gewesen. Jetzt dagegen …
    »Ywha, was ist mit dir?«
    Nasar schüttelte bereits die Hand desjenigen, der aus dem Auto gestiegen war. Ywha sah nur den Rücken des Ankömmlings, der ein helles Hemd trug. Ein schwarzhaariger, gepflegter Hinterkopf, glattes, penibel geschnittenes Haar …
    »Ywha, was ist denn?«
    »Mir ist schlecht …«, brachte sie mit Mühe hervor. »Tut mir leid, Schwiegerpapa, aber ich werde reingehen … Ich muss mich hinlegen …«
    »Rote?!« Unmittelbar vor ihrer Nase tauchten die alarmierten, prüfenden und zugleich fröhlichen Augen ihres Schwiegervaters auf. »Was ist denn los? Du machst mich doch wohl nicht zum Opapa?«
    Nasar brachte den Besucher schon zum Lagerfeuer. Jetzt bekam Ywha auch das lachende Gesicht des unangekündigten Gastes zu sehen. Es war ihr völlig unbekannt. Nein, nicht ihn hatte sie damals gesehen.
    Ihr Unwohlsein spürend, hörte Nasar auf zu lachen und war mit zwei Sätzen an Ywhas Seite. Die Berührung seiner Hände machte es ihr leichter, wenn auch nur kurzzeitig.
    »Verzeiht.« Gequält verzog sie die Lippen zu einem Lächeln und versuchte, an dem Gast vorbeizusehen.
    Der Besucher lächelte nach wie vor. Mitleidig, wie sie glaubte.
    Nasar hob sie in seine Arme und drückte sie wie ein Kätzchen an seine Brust. Während er sie zum Haus trug, sah er sie besorgt an. »Was machst du denn für Sachen, Rote? Hast du was Schlechtes gegessen oder … meine Rote … Sollen wir einen Arzt holen?«
    Sie lächelte so beruhigend, wie es irgend ging.
    Er trug sie die Treppe
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