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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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zu locken, mit ihrem gequälten Lächeln und dem zierlichen, an die Lippen gepressten fleischlosen Finger.
    »War…te …«
    Da veränderte sich ihr Gesicht plötzlich. In den trüben Augen stand nun Entsetzen geschrieben. Sie blickte über seine Schulter hinweg.
    Er drehte sich um.
    Dort, wo in der Dunkelheit das noch immer kräftige Feuer zuckte, stand nun ein Tschugeist.
    Ein Waldgeschöpf, das die Menschen vor den Njawken schützt. Einzig aus diesem Grund war auch er gekommen: um diese Frau zu vernichten, diese Untote, diese Njawka.
    Selbst wenn sich die blasse Frau bereits in der Düsternis des Waldes auflöste, der Mann wusste doch, wie leicht der Tschugeist sie einholen würde. Schon im nächsten Augenblick mochte er sie packen.
    Der Mann trat einen Schritt vor, die bleichen Finger um die nunmehr nutzlose Waffe klammernd. Was konnte er denn mit seinem kunstvoll gearbeiteten Handbeil – was mit dessen spitzer Schneide – gegen einen Tschugeist aus dem Wald ausrichten? Die Menschen kannten nur einen Weg, einen Tschugeist aufzuhalten – und selbst dann auch nur vorübergehend.
    Der Mann ging weiter auf den anderen zu, breitete die Arme in einer einladenden Geste weit aus. »Wollen wir tanzen? Tanzt du mit mir, Großväterchen?«
    Das Waldgeschöpf schwieg. In seinem großflächigen, von einem Fellkranz gerahmten Gesicht las der Mann Spott. Die Njawka, die Beute, war viel zu nah, als dass der Tschugeist die Jagd abbrechen wollte. Und sei es um seines besonderen Vergnügens willen …
    »Tanzen wir?!« Der Mann hockte sich keck hin und ließ das Beil in einem funkelnden großen Kreis zwischen seinen Händen herumwirbeln.
    »Warum stellst du dich mir in den Weg?«, fragte der Tschugeist. Seine Stimme knarzte wie eine alte Tanne.
    Der Mann hielt in der Bewegung inne und hätte beinahe das Beil fallen gelassen.
    »Die Njawka bringt dir den Tod.« Die schwarzen Hundelippen des Tschugeists verzogen sich zu einem Hohnlächeln. »Und trotzdem sperrst du dich dagegen, dass ich sie umbringe?«
    Der Mann hüllte sich in Schweigen.
    Der Tschugeist stapfte vorwärts. »Vielleicht kannst du eine Hexe überwinden, aber eine Njawka überwindest du niemals, denn die Njawka ist ein Teil von dir … Du hast keine Angst vor dem Leben … und trotzdem willst du nicht, dass ich deine Njawka töte?«
    Der Mann hüllte sich in Schweigen.
    »Gut«, befand der Tschugeist, dessen Stimme die wuchtigen Tannen ängstlich erzittern ließ. »Soll dich deine Njawka ruhig in den Nebel am Abhang führen.«
    Daraufhin verschwand der Tschugeist.
    Die Tannenzweige, die er streifte, wogten nicht.

1
    Zum ersten Mal nach all den Tagen glaubte Ywha an ihr Glück.
    Der Mann, der sie in dieser Zeit examiniert hatte, war endlich zufrieden gewesen und sogar ein wenig aufgetaut. Ein Scherz von ihr hatte ihn zum Lachen gebracht, bis ihm die Tränen kamen. Danach hatte er von ihr verlangt, sie – als Braut – möge aufhören, ihn ehrfurchtsvoll als »Professor Mytez« anzusprechen, und ihn lieber so nennen, wie es sich gehörte: Schwiegerpapa. Begeistert hatte Ywha dem zugestimmt und sich schließlich darangemacht, auf der Wiese ein Lagerfeuer für ihr Picknick zu entfachen.
    »Was dein Herz begehrt, das sei ihm nicht verwehrt!« Der Professor offenbarte nun sogar den Possenreißer, der in ihm steckte. »Wo man ist zu zwei'n, da stellt sich bald ein Drittes ein, und ist man erst zu drei'n, da werden es bald fünfe sein. Lasst uns anstoßen, Kinder, auf dass die Welt bald mehr von uns hat!«
    Die rote Abendsonne brach sich in den hohen Fenstern ihres zukünftigen Zuhauses. Das Gebäude mit dem roten Dach besaß einen Balkon, der, von Weinreben umwunden, an das Etikett auf einer Flasche alten Weins erinnerte. Hoch oben zitterte ein kupferner Wetterhahn. Nasar kam über den Hof, einen Korb mit Essen in der Armbeuge und dabei ständig etwas verlierend, mal ein Geschirrtuch, mal ein Bündel Servietten, mal eine glitschige Kartoffel.
    Irgendwann stimmte ihr Schwiegervater die Mandoline. Zum Repertoire dieses ernsten und achtbaren Mannes gehörten zahllose neckische und sogar ein paar frivole Stücke. Vor lauter Lachen ließ Ywha ihr Brot zweimal ins Feuer fallen. Ihr Schwiegervater funkelte mit den Augen und klampfte derart los, dass sich selbst Nasars Wangen vor Verlegenheit röteten.
    Mit einem Mal presste der Schwiegervater den Handteller gegen die Saiten, blinzelte, blickte ins Feuer und stimmte dann mit einer ganz veränderten Stimme etwas Lyrisches an,
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