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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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eigenen Augen waren.
    Ich werde es tun. Ich werde die Initiation durchlaufen.
    Aber du hast die Initiation bereits hinter dir!
    »Und wenn die Zeit kommt zu sterben, so sterbt. Und wenn die Zeit kommt zu leben, so lebt.«
    Sie machte einen Schritt.
    Ihr Weg würde sich als unsagbar schwer erweisen.
    Sie lief nicht über den Schlangenkörper – sie bohrte sich durch das metallene Labyrinth im Innern der Eisenschlange. Und der Ringelkörper wand sich, wollte sie zermalmen. Sie nicht durchlassen.
    Der Gang wurde enger und enger. Sie kroch vorwärts, schürfte sich die Haut an den Ellbogen und Knien auf, an den Schultern und Rippen. Die Liebe ihrer Kinder wehte ihr ins Gesicht, eine Liebe, so natürlich wie der morgendliche Dunst über einem warmen See. Und diese Liebe stieß sie wie ein Kolben zurück. Sie robbte weiter. Die Hälfte des bereits gegangenen Weges war verloren, und verloren war auch die Gewissheit, denn schließlich verlangte es sie selbst nach diesem über alles triumphierenden Festtag, nach den Feuernadeln, nach dem Himmel voller Augen, nach der Freiheit, die so gierig war wie eine gespannte Sehne …
    Doch eine andere Kraft, deren Namen sie nicht wusste, trieb sie mit einem unbarmherzigen Ruf an. Sie musste weitergehen. Denn dort, am Ende des Schlangentunnels, streckte sich ihr eine Hand entgegen …
    Und sie ging weiter. Sie kroch, zwängte sich durch die Eisenringe, schloss die Augen, folgte dem Magnetismus dieses zarten Rufs, der Saite, die jeden Augenblick reißen konnte, der Kraft, deren Bezeichnung sie nicht kannte.
    Weißer Stoff zerriss. Zärtlichkeit durchflutete sie. Kinderhände reckten sich ihr durch die schwarzen Fetzen der Nacht entgegen. Die Zärtlichkeit schmerzte nicht, denn die Kinder besaßen sie für immer. Die Erde bebte, ein langsamer Tanz zog sich dahin, ein schmerzlicher Tanz auf der Trommel, in die sich der Himmel verwandelt hatte, ein Triumphmarsch. Und alle ihre Kinder kamen hierher …
    Ihr neues Wesen erwies sich als allzu mächtig, allzu groß und schön, als dass es sich losreißen wollte, als dass es aus ihr wie aus einem Nylonstrumpf herausschlüpfen würde. Erneut presste es Ywha zurück, ganz zum Anfang ihres Weges, und die Eisenschlange rasselte mit den Gliedern, sagte jedoch kein einziges Wort. Vorhin, als sie noch lebendig und gestreift gewesen war, hatte sie schon alles gesagt: »Du bist deinen Weg bereits gegangen.«
    Nun lag sie da, zerschlagen und gebrochen. Und sah die ausgestreckte Hand nicht mehr.
    Sie dagegen sah, wie die Flamme des hohen Lagerfeuers züngelte. Immer höher und höher, dorthin, wo zwischen dem kreisenden Himmel und der kreisenden Erde das reglose Opfer hing.
    »Ich bin nie ein Opfer gewesen. Ich bin niemals ein Opfer gewesen, und ich werde mich nicht opfern, Ywha. Ich führe lediglich das aus, was ich für notwendig erachte.«
    Woher kam diese Stimme? Woher?! Oder sprach sie mit sich selbst, wollte sie sich täuschen, es sich leichter machen, sich rechtfertigen?
    »Sieh mich an. Das macht niemand mit mir , das mache ich selbst, weil ich es so entschieden habe … Djunka … Ywha. Weil ich es so will.«
    Sag mir den Namen, bat sie schweigend. Verrat mir, wie die Menschen das nennen, wie dieser Ruf heißt, der mir im Hals steckt, aber trotzdem nicht herauskann. Wie heißt er? Den Namen, Klawdi, nenn ihn mir!
    Er schwieg. Das Feuer erhob sich und blühte auf, der Wind zauste zärtlich die orangefarbenen Flammenzungen.
    Warum, Klawdi? Warum tust du das?
    Er schwieg.
    In diesem Augenblick sprudelte die unbenannte Kraft aus ihr heraus wie das Blut aus einer aufgeschlitzten Kehle. Der Strahl flutete in den Raum und riss sie mit sich, durch das Labyrinth, einer neuen, einer zweiten Initiation entgegen, einem neuen Wesen entgegen, für das es noch keinen Namen gab.
    Die Nacht schlug ihr ins Gesicht. Ein rotes, ein dunkelrotes, ein feuerrotes, ein blutrotes Gesicht. Der Mond flatterte mit gelben Bannern. Sie standen für ein großes Ziel und einen majestätischen Sinn, diese schönen, verlorenen, fast verlorenen … schon … fast …
    Vor ihr wartete nicht mehr auf sie als eine ausgestreckte Hand.
    Gleich würde sie die kalten, steifen Finger berühren.
    Nur ein einziger Augenblick fehlte noch bis zu dieser Berührung. Der Bruchteil eines Augenblicks, dann würden sich ihre Hände vereinigen, einmal nur noch musste sie Luft holen …
    Gleich.

Epilog
    »Pass auf, Rote, gleich lernst du jemand ganz Besonderen kennen … Was ist denn mit dir,
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