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Das Jahr Des Werwolfs

Das Jahr Des Werwolfs

Titel: Das Jahr Des Werwolfs
Autoren: Stephen King
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als Marty heranrollte, legte er ein großes, in Zellophan eingewickeltes Paket auf die dünnen Schenkel des Jungen.
    »Für dich, mein Junge«, sagte er.
    »Und ich wünsche dir einen schönen vierten Juli.«
    Zuerst sah Marty die exotischen chinesischen Schriftzeichen auf den Etiketten. Dann sah er den Inhalt. Das Zelophanpaket enthielt lauter Feuerwerkskörper.
    »Die Dinger, die wie Pyramiden aussehen, sind besonders schön«, sagte Onkel AI.
    Marty war wie betäubt vor Freude. Er bewegte die Lippen, aber er brachte kein Wort heraus.
    »Du mußt nur die Zündschnur anstecken, sie auf den Boden setzen, und sie sprühen so viele Farben wie ein Glücksdrache in seinem Atem hat. Die Röhren, aus denen die dünnen Stöcke herausragen, sind Flaschenraketen. Du stellst sie in eine leere Cola-Flasche, zündest sie an, und schon gehen sie hoch. Die kleinen sind Fontänen. Da sind auch zwei Leuchtkugeln … und natürlich ein Paket mit Krachern. Aber die steckst du besser erst morgen an.«
    Onkel AI warf einen Blick zum Pool hinüber, von wo immer noch der Lärm zu hören war.
    »Danke!« sagte Marty. »Danke, Onkel AI!«
    »Sag nur nicht, von wem du sie hast«, sagte Onkel AI. »Für ein blindes Pferd ist Nicken so gut wie Blinzeln, stimmt’s?«
    »Ja, das stimmt«, plapperte Marty, obwohl er keine Ahnung hatte, was Nicken und Blinzeln und ein blindes Pferd mit Feuerwerkskörpern zu tun hatten. »Aber bist du sicher, daß du sie nicht selbst brauchst, Onkel AI?«
    »Ich kann mir neue besorgen«, sagte Onkel AI.
    »Ich kenne einen Mann drüben in Bridgton. Sein Laden hat immer auf, bis es dunkel wird.« Er legte Marty eine Hand auf den Kopf. »Du feierst deinen Vierten, wenn alle anderen ins Bett gegangen sind. Schieß keine Kracher ab, sonst werden sie wach. Und um Himmels willen, paß auf, daß die Dinger dir nicht die Hand abreißen. Sonst spricht meine große Schwester kein Wort mehr mit mir.«
    Onkel AI lachte, stieg in seinen Wagen und ließ den Motor an. Er hob grüßend die Hand, während Marty versuchte, noch ein Wort des Dankes zu stottern. Er schaute seinem Onkel noch eine Weile nach und mußte schlucken, um nicht zu weinen. Dann steckte er sich das Paket mit Feuerwerkskörpern unter das Hemd und fuhr zum Haus zurück und in sein Zimmer.
    In Gedanken wartet er jetzt darauf, daß es Nacht wird und die anderen Schlafengehen.
    Er liegt an diesem Abend als erster im Bett. Seine Mutter kommt herein und gibt ihm einen Gutenachtkuß. Nur ganz kurz, und sie schaut auch nicht auf seinen dürren Beine, die sich unter der Decke abzeichnen. »Alles in Ordnung, Marty?«
    »Ja, Mom.«
    Sie bleibt stehen, als wollte sie noch etwas sagen.
    Dann schüttelt sie fast unmerklich den Kopf und verläßt sein Zimmer.
    Seine Schwester Kate kommt herein. Sie gibt ihm keinen Kuß; sie beugt sich nur vor, und er merkt, daß ihr Haar nach Chlor riecht. Sie flüstert: »Siehst du? Du kriegst nicht immer alles, bloß weil du ein Krüppel bist.«
    »Du wirst dich wundern, was ich alles kriege«, sagt er leise, und sie schaut ihn eine Weile ein wenig mißtrauisch an, bevor auch sie hinausgeht.
    Als letzter kommt sein Vater zu ihm und setzt sich auf Martys Bettkante. Wieder spricht er in diesem dröhnenden Kumpel-Ton. »Alles okay, alter Junge? Du bist heute aber früh ins Bett gegangen. Wirklich früh.«
    »Ich hab mich ein wenig müde gefühlt, Daddy.«
    »Okay.« Er gibt Marty mit seinen großen Händen einen Klaps auf eines seiner dünnen Beine und zuckt unbewußt zusammen. Dann steht er rasch auf. »Das mit dem Feuerwerk tut mir sehr leid, aber warte nur bis zum nächsten Jahr! Ho, ho!«
    Marty lächelt ein kleines heimliches Lächeln. Er beginnt darauf zu warten, daß die anderen ins Bett gehen. Es dauert sehr lange. Im Wohnzimmer
    läuft das Fernsehen endlos weiter, und die eingespielten Lachkonserven werden gelegentlich von Kates schrillem Kichern übertönt. Die Tür zur Toilette in Großvaters Schlafzimmer wird zugeknallt, und Marty hört es rauschen. Seine Mutter plaudert am Telefon, wünscht jemandem einen schönen Vierten, ja, es sei schade, daß das Feuerwerk abgesagt worden sei, aber unter den Umständen müsse man Verständnis dafür haben. Ja, Marty sei sehr enttäuscht gewesen. Einmal, gegen Ende der Unterhaltung, lachte sie, und ihr Lachen hörte sich kein bißchen schroff an. In Martys Nähe lacht sie kaum jemals.
    Es wird sieben Uhr dreißig, dann acht und dann neun Uhr, und immer wieder fährt er mit der Hand unter das
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