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Das Jahr Des Werwolfs

Das Jahr Des Werwolfs

Titel: Das Jahr Des Werwolfs
Autoren: Stephen King
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das grauenhafte Gesicht der Bestie geschaut und überlebt. Und außerdem empfindet er eine ganz einfache kindliche Freude, eine Freude, die er niemandem wird mitteilen können, nicht einmal Onkel AI, der ihn vielleicht verstanden hätte. Er empfindet diese Freude, weil das Feuerwerk stattgefunden hat. Trotz allem! Trotz der Bestie!
    Und während seine Eltern sich noch Sorgen wegen seiner Psyche machen und sich fragen, ob von diesem Erlebnis wohl Komplexe zurückbleiben werden, ist Marty Coslaw im tiefsten Innern davon überzeugt, daß es der schönste Nationalfeiertag von allen gewesen ist.



»Natürlich glaube ich, daß es eine Art Werwolf ist«, sagt Polizist Neary. Er spricht zu laut — vielleicht zufällig, aber wohl eher absichtlich — und in Stans Frisörladen verstummt jede Unterhaltung. Der August ist fast halb vorbei, in Tarker’s Mills der heißeste August seit Menschengedenken, und gestern war Vollmond. Die Stadt hält den Atem an und wartet.
    Polizist Neary schaut sich unter seinen Zuhörern um und spricht weiter aus Stan Pelkys mittlerem Frisiersessel. Er spricht gewichtig, kritisch und auf psychologischer Basis, alles aus den Tiefen seiner High-School-Bildung. Neary ist ein großer kräftiger Mann, und in der High-School hat er für die Tarker’s Mills Tigers den Ball hinter die gegnerische Torlinie gebracht; seine schulischen Leistungen wurden gelegentlich mit Drei und sehr oft mit Vier benotet.
    »Es gibt Leute«, erklärt er seinen Zuhörern, »die wie zwei Menschen sind. Sie haben eine gespaltene Persönlichkeit. Ich würde sie verdammte Schizos nennen.«
    Er schweigt eine Weile, um das respektvolle Schweigen zu genießen, mit dem die anderen seine Worte quittieren. Dann fährt er fort: »Ich glaube, daß dieser Mann auch so einer ist. Ich glaube, er weiß nicht was er tut, wenn er bei Vollmond losläuft und jemanden umbringt. Es könnte jeder sein — ein Bankkassierer, ein Tankwart an einer der Stationen an der Town Road, vielleicht sogar einer der Anwesenden. In dem Sinne, daß man innerlich ein Tier ist und äußerlich ganz normal aussieht. Darauf kann man wetten. Wenn ihr aber glaubt, da ist ein Kerl, dem plötzlich Haare wachsen und der dann den Mond anheult… nein. Solchen Quatsch können nur Kinder glauben.«
    »Und was ist mit dem Jungen von Coslaw, Neary?« fragt Stan und bearbeitet dabei sorgfältig Nearys Specknacken. Seine lange scharfe Schere macht schnipp … schnipp … schnipp.
    »Das beweist doch, was ich gesagt hab’«, erwiderte Neary ungehalten. »Solche Scheiße können nur Kinder glauben.« Und er ist wirklich ungehalten, wenn er an Marty Coslaw denkt.
    Dieser Junge hat als einziger den Irren gesehen, der in dieser Stadt sechs Leute umgebracht hat, unter ihnen Nearys guten Freund Alfie Knopfler. Und darf er etwa den Jungen vernehmen? Nein. Weiß er überhaupt, wo der Junge ist? Nein! Er hat sich mit einem Protokoll zufriedengeben müssen, in das ihm die State Police Einblick gewährte, und auch darum hat er auf Knien betteln müssen. Das alles nur, weil er ein Kleinstadtpolizist ist, den die State Police für ein Kind hält, das sich nicht allein die Schuhe zubinden kann. Und das Protokoll! Damit hätte er sich genausogut den Arsch abwischen können. Nach diesem Protokoll war die »Bestie« dem Jungen der Coslaws über zwei Meter groß vorgekommen. Sie sei nackt und ihr ganzer Körper mit Haaren bedeckt gewesen. Sie habe riesige Zähne und grüne Augen gehabt und habe gerochen wie eine Fuhre Pantherscheiße. Sie habe Klauen gehabt, aber diese Klauen hätten wie Hände ausgesehen. Außerdem meinte der Junge
    einen Schwanz gesehen zu haben. Einen Schwanz, verdammt nochmal.
    »Vielleicht« ruft Kenny Franklin von seinem Platz auf einem der Stühle, die für die Wartenden entlang der Wand stehen, »vielleicht ist das eine Art Verkleidung, die der Kerl trägt. So etwas wie eine Maske.«
    »Das glaube ich nicht«, sagt Neary nachdrücklich und nickt, um seine Worte zu unterstreichen. Stan muß rasch die Schere zurückziehen, damit er Neary nicht in den Specknacken sticht. »No, Sir! Das glaube ich nicht! Vor den Sommerferien hat der Junge in der Schule zu viele Werwolfgeschichten gehört — das hat er selbst zugegeben —, und dann hat er nichts anderes zu tun als in seinem Stuhl zu sitzen und darüber nachzudenken. Simple Psychologie. Wenn du bei Mondschein aus dem Busch gekommen wärest, hätte er dich für einen Werwolf gehalten, Kenny.«
    Kenny lacht ein wenig
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