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Das Jahr Des Werwolfs

Das Jahr Des Werwolfs

Titel: Das Jahr Des Werwolfs
Autoren: Stephen King
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schmalen jungfräulichen Bett liegt und das kalte blaue Licht des Vollmonds durch das Fenster hereinfällt.
    Oh Liebe Liebe Liebe, Liebe wäre wie — ja wie?
    In diesem Jahr hat Stella Randolph, die in Tarker’s Mills einen Handarbeitsladen betreibt, zum Valentinstag zwanzig Karten bekommen — eine von Paul Newman, eine von Robert Redford, eine von John Travolta … sogar eine von Ace Frehley von der Rock-Gruppe Kiss. Vom blauen Licht des Mondes angestrahlt, stehen sie auf der Kommode am anderen Ende des Zimmers. Sie hat sie sich alle selbst geschickt, in diesem Jahr wie in jedem anderen.
    Liebe wäre wie ein Kuß bei Tagesanbruch … oder wie der letzte Kuß, der richtige Kuß am Ende aller albernen Liebesgeschichten … Liebe wäre wie Rosen in der Dämmerung …
    In Tarker’s Mills lacht man über sie. Bestimmt. Darauf kann man wetten. Kleine Jungen machen sich über sie lustig und kichern hinter vorgehaltener Hand. Und manchmal, wenn sie auf der anderen Straßenseite in Sicherheit sind und Polizist Neary nicht in der Nähe ist, singen sie mit ihrem hübschen hellen Sopran spöttisch Fettsack-Fettsack-zwei-mal-vier. Aber Stella weiß von der Liebe, und sie weiß vom Mond. Sie ist ein wenig zu kurz geraten, und sie ist zu dick, aber jetzt, in dieser Nacht der Träume, wo der Mondschein als bittere blaue Flut durch die von Eisblumen überzogenen Scheiben fällt, kommt es ihr vor, als hätte Liebe immer noch eine Chance. Liebe und der Duft des Sommers, wenn er kommt …
    Liebe wäre wie das rauhe Gefühl der Wange eines Mannes, die reibt und kratzt —
    Und plötzlich ein Kratzen am Fenster.
    Sie richtet sich auf den Ellenbogen auf, und die Decke gleitet von ihrem üppigen Busen. Eine dunkle Gestalt hat sich vor das Licht des Mondes geschoben — seltsam verzerrt, aber eindeutig männlich, und Stella denkt: Ich träume, und in meinen Träumen werde ich ihn kommen lassen … und in meinen Träumen werde ich mich selbst gehen lassen. Sie denkt an wunderbare, schmutzige Dinge dabei, aber das Wort ist sauber, und das Wort stimmt; Liebe ist sich gehen lassen.
    Sie steht auf und ist überzeugt, daß es ein Traum ist, denn draußen steht geduckt ein Mann, ein Mann, den sie kennt, ein Mann, dem sie fast jeden Tag auf der Straße begegnet. Es ist — (Liebe ja Liebe ist wie Kommen, und die Liebe ist gekommen)
    Aber als sie mit ihren plumpen Fingern nach dem Fensterrahmen greift, sieht sie, daß es überhaupt kein Mann ist; dort draußen steht ein Tier, ein riesiger zottiger Wolf, die Vorderpfoten auf dem äußeren Sims, die Hinterbeine bis an die Schenkel in der Schneewehe, die sich an der Westseite des Hauses hier am Stadtrand gebildet hat.
    Aber heute ist Valentinstag, und es wird Liebe geben, denkt sie; selbst im Traum haben ihre Augen sie getrogen. Es ist ein Mann, jener Mann, und er sieht so sündhaft gut aus …
    (Sünde ja Liebe wäre wie Sünde)
    … und in dieser mondhellen Nacht ist er gekommen, und er wird sie nehmen. Er wird …
    Sie schiebt das Fenster hoch, und der kalte Windstoß, in dem sich ihr dünnes blaues Nachthemd hinter ihr bauscht, mahnt sie, daß dies kein Traum ist. Der Mann ist weg, und mit einem Gefühl, als müßte sie in Ohnmacht fallen, erkennt sie, daß er nie hier war. Schaudernd tastet sie sich einen Schritt zurück, und mit einem leichten Satz springt der Wolf in ihr Zimmer. Er schüttelt sich und sprüht kleine Schneewolken in die Dunkelheit.
    Aber Liebe! Liebe ist wie … ist wie … wie ein Schrei — Zu spät erinnert sie sich daran, daß Arnie Westrum nur einen Monat vorher in einem Eisenbahn-schuppen westlich der Stadt in Stücke gerissen wurde. Zu spät…
    Der Wolf trottet auf sie zu, und seine gelben Augen funkeln vor kalter Lust. Stella Randolph bewegt sich rückwärts auf ihr schmales jungfräuliches Bett zu, bis sie mit ihren plumpen Beinen gegen den Rahmen stößt, und läßt sich nach hinten fallen.
    Der Mondschein schickt einen silbernen Streifen über das zottige Fell der Bestie.
    Die Valentinskarten auf der Kommode zittern kaum merklich im Wind, der durch das Fenster hereinstreicht; eine von ihnen fällt herab und beschreibt große stumme Bogen in der Luft, während sie langsam zu Boden schaukelt.
    Der Wolf legt beide Pfoten auf das Bett, eine an jede Seite der Frau, und sie kann seinen Atem riechen … heiß, aber irgendwie nicht unangenehm. Seine gelben Augen starren in sie hinein.
    »Geliebter«, flüstert sie und schließt die Augen.
    Er stürzt sich auf sie.
    Liebe
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