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Das Jahr Des Werwolfs

Das Jahr Des Werwolfs

Titel: Das Jahr Des Werwolfs
Autoren: Stephen King
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Goldgrün. Der Gast kreischt … aber der Schrei zerreißt und fällt wie ein Fahrstuhl durch alle Klangregister und wird zu einem bellenden wütenden Knurren.
    Es — das Ding, die Bestie, der Wolf, was immer es ist — greift über die glatte Theke und stößt einen Zuckerstreuer um. Es packt den dicken, zuckerverspritzenden Glaszylinder und schleudert ihn gegen die Wand, an der die Spezialgetränke aufgereiht stehen, und bellt dabei immer noch.
    Alfie fährt herum und kippt mit der Hüfte die Kaffeemaschine vom Regal. Sie knallt auf den Fußboden und verspritzt überall heißen Kaffee, der ihm die Knöchel verbrüht. Er schreit vor Schmerzen und Angst. Ja, jetzt hat er Angst. Die zweihundertzwanzig Pfund brauchbarer Muskeln aus seiner Zeit bei der Marine sind vergessen, vergessen ist jetzt der Neffe Ray, vergessen auch die Liebesnacht mit Arlene McCune auf dem Rücksitz seines
    Wagens. Hier ist jetzt nur noch die Bestie, dieses Horror-Monster aus einem Film im Autokino, ein Horror-Monster, das direkt aus der Leinwand gesprungen ist.
    Mit entsetzlicher Leichtigkeit springt es auf die Theke, die Hose zerrissen, das Hemd zerfetzt, Alfie hört Schlüssel und Kleingeld in den Taschen klimpern.
    Es springt Alfie an, und Alfie versucht auszuweichen, aber er stolpert über die Kaffeemaschine und landet lang ausgestreckt auf dem roten Linoleum. Wieder ein röhrendes Gebrüll, ein warmer gelber Atemhauch, und dann ein gewaltiger roter Schmerz, als die Zähne der Kreatur sich in Alfies Rücken graben und das Fleisch mit fürchterlicher Gewalt nach oben reißen. Blut spritzt auf den Fußboden, an die Theke und über den Grill.
    Mit einem riesigen gezackten Loch im Rücken, aus dem das Blut spritzt, kommt Alfie taumelnd wieder auf die Beine. Er versucht zu schreien, und das weiße Licht des Mondes, des Sommermondes flutet herein und blendet ihn.
    Wieder springt die Bestie ihn an.
    Mondlicht ist das Letzte, was Alfie sieht.



Die Feiern zum Unabhängigkeitstag wurden abgesagt.
    Marty Coslaw erntet bemerkenswert wenig Mitgefühl bei den Leuten, die ihm am nächsten stehen, als er es ihnen erzählt. Vielleicht ist es, weil sie die Intensität seiner Enttäuschung darüber ganz einfach nicht begreifen.
    »Sei nicht albern«, sagt seine Mutter schroff zu ihm — sie behandelt ihn oft recht schroff, und wenn sie diese Schroffheit sich selbst gegenüber rechtfertigen muß, sagt sie sich, daß sie den Jungen nicht verwöhnen darf, nur weil er behindert ist und sein ganzes Leben im Rollstuhl wird zubringen müssen.
    »Warte bis nächstes Jahr«, sagt sein Dad und schlägt ihm auf die Schulter.
    »Dann wird es doppelt so gut! Doppelt so dudeldammich gut! Du wirst schon sehen, alter Junge! Wart’s ab. Ho, ho!«
    Herman Coslaw ist Sportlehrer an der High-School von Tarker’s Mills, und er redet mit seinem Sohn fast immer in einem Ton, den Marty im stillen als den Ich-bin-doch-ein-guter-Kumpel-Ton bezeichnet. Auch »Ho, ho!« sagt er sehr oft. Die Wahrheit ist, daß Marty seinen Vater Herman Coslaw ein wenig nervös macht. Herman lebt in einer Welt äußerst aktiver Kinder, Kinder, die rennen und toben und Basebälle wegschmettern und Staffelwettschwimmen veranstalten. Und während er diese sportlichen Aktivitäten überwacht, schaut er gelegentlich auf und sieht Marty irgendwo in der Nähe in seinem Rollstuhl sitzen und den anderen Kindern zuschauen. Das hatte Herman schon immer nervös gemacht, und wenn er nervös war, redete er in diesem Kumpel-Ton und sagte »Ho, ho!« oder »Dudeldammich« und nannte Marty einen »alten Jungen«.
    »Ha-ha, endlich hast du einmal nicht bekommen, was du wolltest!« sagt seine große Schwester, als er ihr erzählen will, wie sehr er sich auf heute
    abend gefreut hatte, wie sehr er sich jedes Jahr darauf freut. Auf die Lichterblumen am Himmel über dem Stadtpark, auf die Blitzlichthelle, die dem donnernden WUMMM! folgt, und auf das Echo, das zwischen den niedrigen Hügeln, die die Stadt umgeben, hin-und herrollt. Kate ist dreizehn und Marty elf, und sie ist davon überzeugt, daß alle Marty nur deshalb lieben, weil er nicht gehen kann. Sie freut sich sehr, daß das Feuerwerk abgesagt wurde.
    Selbst Großvater Coslaw, auf dessen Mitgefühl man gewöhnlich zählen konnte, war nicht beeindruckt gewesen. »Niemand sagt den vierten Juli ab«, sagte er mit seinem schweren slawischen Akzent. Er saß auf der Veranda, und Marty fuhr mit seinem batteriebetriebenen Rollstuhl durch die Tür nach draußen, um mit
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