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Das Jahr Des Werwolfs

Das Jahr Des Werwolfs

Titel: Das Jahr Des Werwolfs
Autoren: Stephen King
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Stimmen, die fast noch menschlich klingen.
    Und jetzt fallen die anderen ein, und es ist ein Gebrüll wie im Zoo zur Fütterungszeit, und diesmal kreischt Reverend Löwe es in einer Art Ekstase hinaus: »Die Bestie! Die Bestie ist überall! Überall! Über—« Aber seine Stimme ist nicht mehr seine Stimme; sie ist zu einem unartikulierten Knurren geworden, und als er nach unten schaut, sieht er, daß seine Hände, die aus den Ärmeln seines besten schwarzen Anzugs herausragen, zu knotigen Pfoten geworden sind.
    Und dann wacht er auf. Es war nur ein Traum, denkt er und sinkt wieder zurück. Nur ein Traum, Gott sei Dank.
    Aber als er an diesem Morgen, am Pfingstmorgen, dem Morgen nach dem Vollmond, die Kirchentür öffnet, sieht er keinen Traum; er sieht die zerfleischte Leiche von Clyde Corliss, der hier jahrelang als Hausmeister gearbeitet hat. Er hängt mit dem Gesicht nach unten von der Kanzel. Sein Schiebebesen lehnt in der Nähe.
    Nichts von alledem ist ein Traum; Reverend Löwe kann nur wünschen, es wäre so. Er öffnet den Mund, holt tief Luft und kreischt laut auf.
    Der Frühling ist wieder da — und dieses Jahr ist die Bestie mit ihm gekommen.



In der kürzesten Nacht des Jahres poliert Alfie Knopfler, der das Chat’n Chew, das einzige Cafe am Ort, betreibt, seine Formica-Theke, bis sie nur so glänzt, und hat dabei die Ärmel an seinen tätowierten und muskulösen Armen bis über die Ellenbogen hochgerollt. Das Cafe ist im Augenblick völlig leer, und als er mit der Theke fertig ist, legt er eine kleine Pause ein und schaut auf die Straße hinaus. Er muß daran denken, daß er an einem duftenden Frühsommerabend wie diesem einst seine Unschuld verlor — das Mädchen war Arlene McCune gewesen, die heute Arlene Bessey heißt und mit einem der erfolgreichsten jungen Anwälte Bangors verheiratet ist. Mein Gott, wie hat sie sich damals auf dem Rücksitz seines Wagens bewegt, und wie süß hatte die Nacht geduftet!
    Die Tür öffnet sich in den Sommer hinaus, und hell flutet das Mondlicht herein. Er vermutet, daß sein Cafe deshalb so leer ist, weil es heißt, daß die Bestie bei Vollmond umgeht, aber Alfie hat weder Angst, noch macht er sich Sorgen. Er hat keine Angst, weil er zweihundertzwanzig Pfund wiegt, und das meiste davon sind die guten alten Muskeln aus seiner Zeit bei der Marine, und er macht sich keine Sorgen, weil er weiß, daß seine Stammgäste am nächsten Morgen früh und in alter Frische wieder hereinkommen werden, um bei ihm ihr Frühstück einzunehmen. Vielleicht, denkt er, schließe ich den Laden heute ein wenig eher — die Kaffeemaschine abstellen und zudecken, drüben beim Supermarkt einen Sechserpack Bier besorgen und im Autokino den zweiten Film ansehen. Juni. Juni und Vollmond — eine gute Nacht für das Autokino und für ein paar Bier. Eine gute Nacht, sich an vergangene Eroberungen zu erinnern.
    Er wendet sich der Kaffeemaschine zu und dreht sich resigniert wieder um, als jemand durch die Tür kommt.
    »Hallo! Wie geht’s denn?« fragt er, denn der Kunde ist einer seiner Stammgäste … wenn er diesen Gast auch selten später als zehn Uhr morgens sieht. Der Gast nickt, und die beiden wechseln ein paar freundliche Worte. »Kaffee?« fragt Alfie, als der Kunde sich auf einen der gepolsterten roten Thekenhocker setzt.
    »Bitte.«
    Nun, immer noch Zeit für den zweiten Film, denkt Alfie und wendet sich wieder der Kaffeemaschine zu. Sein Gast sieht nicht aus, als ob er lange bleiben wollte. Müde. Vielleicht krank. Immer noch Zeit genug —
    Entsetzen wischt den Rest des Gedankens weg. Alfie starrt… starrt fassungslos. Die Kaffeemaschine ist so makellos sauber wie alles andere in seinem Cafe, der Zylinder aus rostfreien Stahl glänzt wie ein Metallspiegel. Und in seiner glatten konvexen Oberfläche sieht er etwas ebenso Unglaubliches wie Scheußliches. Sein Gast, jemand, den er jeden Tag sieht, jemand, den auch alle anderen jeden Tag sehen, verändert sich. Das Gesicht des Gastes scheint sich irgendwie zu verschieben, zu schmelzen, dicker und breiter zu werden. Das Baumwollhemd des Gastes dehnt sich immer mehr … und plötzlich reißen die Nähte, und Alfie kann absurderweise nur an eines denken: an »Der unglaubliche Hulk«, eine Fernsehserie, die sein kleiner Neffe Ray immer so gern sieht.
    Das angenehme Durchschnittsgesicht des Gastes verwandelt sich in etwas Bestialisches. Die mattbraunen Augen des Gastes haben sich aufgehellt; sie funkeln jetzt in einem schrecklichen
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