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Das Jahr der Woelfe

Das Jahr der Woelfe

Titel: Das Jahr der Woelfe
Autoren: Willi Faehrmann
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ging die Sonne auf und der Tau blitzte auf den Gräsern.
    »Was für ein Morgen«, sagte Hedwig laut.
    »Nur wir, wir passen nicht in diesen Sonnentag«, fügte Mutter hinzu.
    »Ob es für uns noch einmal Sonnentage geben wird?«, fragte Vater bitter.
    »In Sibirien scheint die Sonne selten warm«, rief ein Weib von vorn. »Dort sind die Sommer kurz.«
    »Weshalb sprechen die Leute von Sibirien, Vater?«, fragte Albert ängstlich.
    »Dummes Gerede«, antwortete Vater ärgerlich.
    »Vielleicht fahren wir nach Leschinen«, wagte Hedwig leise zu flüstern.
    »Ja, wir werden fahren«, rief Albert fröhlich und zeigte auf die Eisenbahngleise, die seit einiger Zeit die Straße begleiteten.
    »Leute, ein Zug!« schallte es aus der Schar.
    Mit einem Mal schien neue Kraft in die Glieder zu strömen. Bald hatten die Ersten die Lokomotive erreicht. Sie stand bereits unter Dampf und spuckte und fauchte so, dass Franz sich an Hubertus’ Haarschopf klammerte.
    Auf dem Dach des Tenders war ein leichtes Maschinengewehr aufgebaut. Die ersten Viehwagen waren voll gestopft mit Menschen. Die Schiebetüren standen nur eine Handbreit auf.
    »Wo geht es hin?«, schrie Hubertus.
    Achselzucken war die Antwort. Sibirien? Das war die bange Frage hinter jeder Stirn.
    Der Wagen stand auf hohen Rädern. Vater und Hubertus halfen Mutter, den Kindern und später auch anderen Leuten hinauf. Schließlich schien ihnen der Platz zu eng zu werden.
    »Hier ist besetzt«, sagte Hubertus zu den Soldaten.
    »Besetzt? Alle müssen hinein, alle.« Er half mit dem Gewehrkolben kräftig nach und brachte es fertig, noch etwa zwanzig Personen in den Wagen zu pferchen. Die zuerst gekommen waren, hatten sich mit dem Rücken gegen die Wände gehockt. Für Vater, Hubertus und viele andere Leute blieb jedoch nur ein kleines Fleckchen in der Wagenmitte übrig.
    »Rückt zusammen an den Wänden«, forderte Hubertus, »dann können wenigstens die Frauen und Kinder gut sitzen.«
    »Hört den Grünschnabel«, ereiferte sich ein alter Schnauzbart, der nicht nur für sich einen guten Platz erkämpft hatte, sondern auch für seinen prallen Sack.
    »Ich schlage dir gleich diesen Arm auf den Schädel«, knurrte Hubertus zornig und schwang seinen Holzarm.
    »Streitet nicht«, sagte ein alter Mann ruhig. »Und du, Nessbauer, nimm deinen Sack von der Wand und lass die Frau mit ihrem Kind dort sitzen.«
    Widerwillig fügte sich der Schnauzbart. Endlich saßen alle. Mutter wickelte die Flasche aus dem Wolltuch und fütterte Elisabeth mit Haferflocken, die sie in ein wenig Milch einweichte. Vater saß vor ihr.
    »Sei sparsam mit der Milch, Agnes«, rief er.
    »Sie bleibt für Elisabeth.« Den anderen Kindern, Hubertus und ihrem Mann brach sie ein Stück Brot und schnitt den Riegel Speck ab, den der Müller ihr eingepackt hatte. Der Speck war gesalzen und schmeckte gut zum Brot.
    Die Wärme der Herbstsonne war bereits im Wagen zu spüren, als die Lokomotive pfiff. Schwarze Krähen flatterten schwerfällig auf. Der Zug rückte an.
    »Es geht nach Osten«, prophezeite der Schnauzbart.
    »Sieh dir die Sonne an, Dummkopf«, widersprach eine Frau.
    »Nach Westen geht es«, bestätigte der alte Mann.
    »Nun«, tröstete sich Konrad, »im Westen liegt zwar Leschinen nicht, aber auch nicht Sibirien.«

32
    Von Stunde zu Stunde bestätigte es sich mehr, dass der Zug nach Westen ratterte. Hubertus sah es an den Sonnenblumen in den Gärten der kleinen Häuser. Sie streckten dem Zug ihre Gesichter entgegen. »Sonnenblumen halten stets Ausschau nach der aufgehenden Sonne«, erklärte er. Am Nachmittag fuhr der Zug langsamer. Konrad drängte sich zum Spalt, den die Tür offen ließ. Es war die einzige Gelegenheit, wenn jemand austreten musste. Lange hatte er gehofft, der Zug würde halten und er könnte dann aussteigen. Aber schließlich musste er doch aufstehen. Einen Augenblick streckte er seinen Kopf in den Fahrtwind. Streckenarbeiter waren dabei, die Schienen des zweiten Gleises aufzureißen.
    »Wo sind wir?«, schrie er.
    »Bald in Stargard«, schallte es zurück.
    »Stargard liegt vor Stettin«, sagte der alte Mann.
    »Und Stettin vor Berlin«, lachte die Frau neben dem Schnauzbart.
    »Berlin«, flüsterte der Vater. Er dachte an das ferne Ziel ihrer Flucht, an seinen Bruder.
    »Berlin«, flüsterte Hubertus. Hoffnung und Furcht weckte das Wort in ihm. Lebten seine Eltern? Stand das Haus?
    Der Zug hielt auf freier Strecke. Sie schoben die Tür weiter auf. Doch als zwei Männer versuchten den
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