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Das Jahr der Woelfe

Das Jahr der Woelfe

Titel: Das Jahr der Woelfe
Autoren: Willi Faehrmann
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gewöhnt. Auf den Äckern rings um die Mühle schoss die Saat, die Kartoffelfelder grünten und auf den wenigen Kornschlägen standen die Halme bereits kniehoch. Am Pfingstfest feierten sie in der evangelischen Kirche eine heilige Messe. Wie selbstverständlich hatte die Gemeinde den katholischen Flüchtlingen ihr Gotteshaus überlassen. Später am Morgen fand der evangelische Gottesdienst statt.
    Der Müller zog seinen guten schwarzen Anzug an. Es stellte sich auf dem Rückweg heraus, dass der Anzug für Pfingsten 1945 zu gut gewesen war. Dicht beim Dorf begegnete der Müller drei ehemaligen polnischen Gefangenen, denen der schöne Stoff in die Augen stach. So kehrte er in Oberhemd und Unterhose in die Mühle zurück. Konrad staunte über den Gleichmut des Mannes. Er lächelte bei der seltsamen Heimkehr und sagte: »Die Soldaten beraubten ihn seiner Kleider und warfen das Los darüber.«
    Während des ganzen Sommers hielten sich die Gerüchte, dass die Flüchtlinge bald in ihre Heimat zurückkehren dürften. Doch als Woche um Woche verging, schwand allmählich die Hoffnung. Polnische Soldaten hatten inzwischen die Russen abgelöst. Es hieß, dass das ganze Land östlich von Oder und Neiße in Zukunft zu Polen gehören sollte. Die Himbeeren reiften in der Schlucht, Blaubeeren gab es reichlich und die Haselnüsse setzten früh an in diesem Jahr.
    Eines Tages streifte Konrad durch die Schlucht und lief dem Wasserlauf entgegen. Er liebte es, allein zu gehen. Sein Schritt war behutsam, leise. Kein trockener Zweig brach unter seinen Sohlen. Die Forellen schossen erst davon, wenn sein Schatten über sie hinglitt. Zum ersten Mal wagte er sich bis an den Rand der Schlucht, dorthin, wo der Bach aus den Wiesen in das Mühlrad hineinsprang. Der Junge war wachsam. Die Warnung der Großen schärfte ihm Ohren und Augen. »Bleib beim Haus! Meide die Polen!«, hieß es. In das freie Feld zu treten, sich gar dem Haus am Bach zu nähern, getraute er sich nicht, obwohl die blanke Fläche eines aufgestauten Sees vor dem Anwesen seine Neugier reizte.
    Plötzlich zuckte er zusammen und duckte sich hinter einen Vorhang violetter Weidenröschen. Vor ihm, kaum zehn Sprünge entfernt, lag ein Junge auf dem Bauch. Er hielt den Oberkörper weit über den Bach gebeugt. Sein Kopf war kahl geschoren und glich einer schwarzblauen Kugel. Seine Nasenspitze berührte beinahe das Wasser. Die braune Hand des Jungen senkte sich unter das Ufer, der Arm folgte sicher.
    »Er spürt den Fisch!«, wusste Konrad, als er sah, wie die Muskeln des Jungen sich anspannten. Ohne Hast zog der Junge seinen Arm unter dem ausgewachsenen Ufer hervor und schleuderte eine handlange Forelle weit in die Wiese. Konrad sah in das strahlende, pausbäckige Gesicht. Unter der braunen Haut glühte das Jagdfieber bis in die Stirn.
    »Bravo!«, rief er und teilte die Weidenröschen mit den Händen.
    Der Junge sprang auf. Misstrauen und Wachsamkeit überflogen sein Gesicht. Sein Hemd leuchtete blau. Die Hose reichte bis über die Knie. »Was willst du hier?«, stieß er hervor. An der Sprache merkte Konrad es sicher, es war ein Polenjunge.
    »Ich heiße Konrad«, sagte er und schritt ihm zögernd entgegen.
    »Marian ist mein Name.«
    »Du kannst Fische mit der Hand fangen.«
    »Das ist leicht.« Marian zuckte geringschätzig mit den Schultern, beugte sich zu dem Fisch nieder und schlug mit einem glatten, roten Kiesel auf seinen Kopf.
    Sie setzten sich ins Gras.
    »Ich wohne am Rand der Schlucht in der Mühle.«
    Marian steckte sich einen Grashalm zwischen die Zähne. »Seit einer Woche ist unser Haus dort drüben.« Er wies zu dem Gehöft am Teich hinüber.
    »Und wo kommst du her?«
    »Erst lebten wir bei Czersk in der Heide. Dann kamen Soldaten und trieben uns fort. Schwarzmeerdeutsche nahmen unseren Hof, unsere Pferde, meine Hündin Malina. An der russischen Grenze blieben wir bei meiner Babuschka. Jetzt sind wir hier und das ist unser Hof.«
    »Und die, denen er bisher gehörte?«
    »Was weiß ich? Vielleicht werden sie jetzt weggetrieben und haben irgendwo eine Babuschka?«
    »Gibt es Fische im Teich?«
    »Viele Fische. So groß.« Er schnitt ein Meterstück aus der Luft.
    »Warum fängst du dann die kleinen Forellen?«
    »Es macht Spaß mit der Hand.«
    »Das ist schwer.«
    »Nein. Du musst sie nur langsam fassen. So!« Er krümmte die Finger und krampfte allmählich die Hand zur Faust.
    »Ich habe keine Angel, weißt du?«
    Da erinnerte sich Konrad an Großvaters Künste.
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