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Das Isaac-Quartett

Das Isaac-Quartett

Titel: Das Isaac-Quartett
Autoren: Jerome Charyn
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Roman Leichen anschauen musste. Der Pathologe führte uns herum. Die Toten sahen alle aus wie Indianer, ihre Haut hatte sich in Baumrinde verwandelt. Ich distanzierte mich von den toten Körpern und redete mir ein, ich sei auf einer Faschingsparty mit Kühlregalen. Es war Harvey, der ein Pfefferminzbonbon nach dem anderen lutschte und ziemlich bleich aussah. Ich war lediglich ein beschissener Voyeur im Haus der Toten.
    Aber ich hatte den Anfang einer Kriminalgeschichte: der traurige Job von ein paar Detectives im Brooklyner Morddezernat. Ich fuhr mit ihnen in ihren Zivilwagen durch die Gegend und hörte mir ihren Hass auf die Straße an. Sie waren nicht die Krieger, als die ich mir Detectives immer vorgestellt hatte; sie waren Beamte mit einer Pistole, die besessen vom Gedanken an ihre Rente waren. Und als ich mich an meinen Bruder und unsere gemeinsame Jugend erinnerte, an seine Muskelshirts und seinen Traum, Mr. America zu werden, erschien mir Harvey als der Traurigste von allen. Er war derjenige, der zu Hause Bücher gelesen hatte, aber ich wurde Schriftsteller. Er war der Künstler in unserer Familie, aber ich war auf die High School für Musik und Kunst gegangen. Ich hatte irgendwie den Platz meines Bruders eingenommen, ihn aus dem Weg geschubst. Ich saß schreibend in einer Universität, und er musste sich Leichen ansehen. Er erzählte mir von einem verstoßenen Rabbi, der einen Monat lang in seiner Badewanne vor sich hin gefault hatte; von einer vierzehnjährigen Prostituierten, die von Zuhältern zu Tode getreten worden war, nur weil sie in deren Territorium angeschafft hatte; oder vom Opfer eines Bandenkrieges, dessen Arme in New Jersey gefunden wurden, während seine Beine auf einer Kartoffelfarm irgendwo auf Long Island begraben lagen. Sein Rumpf wurde nie gefunden.
    Ich betrachtete das Gesicht meines Bruders, als er diese Geschichten erzählte. Da war keine morbide Faszination. Er berichtete einfach nur Fakten aus seinem Leben als Detective. Es fühlte sich ziemlich mies an, sich mit seinen Totenakten füttern zu lassen. Und so begann ich meinen Roman über einen blauäugigen Detective namens Manfred Coen. Dieser Blue Eyes war ein sonderbares Amalgam aus Harvey und mir, zwei braunäugigen Jungs. Coen war ein Pingpong-Freak, wie ich früher. Und auch wenn er nicht Harveys Augenfarbe hatte, so hatte er doch das traurige, sanfte Wesen meines Bruders. Ein Streuner in Manhattan und der Bronx, der von Leichen träumte wie Harvey. Ich gab Blue Eyes einen Mentor, Isaac Sidel, seinen Chef im Polizeihauptquartier. Anfangs protegiert er ihn, und später lässt er zu, dass er getötet wird. Isaac ist der finstere Boss und Coen sein blauäugiger Engel, eine Art Billy Budd.
    Einen großen Teil von Blue Eyes schrieb ich in Barcelona. Ich war sechsunddreißig und noch nie zuvor im Ausland gewesen. Angekommen war ich in Madrid, fest entschlossen, buchstäblich jeden Balkon in jeder einzelnen Straße aufzusaugen. Ich sah mir die Goyas im Prado an und fühlte mich, als ob mein eigenes Leben auf den blutig düsteren Leinwänden dargestellt wäre: Der Riese, der seine Kinder fraß, hätte in der Bronx geboren sein können. Dann ließ ich mich in Barcelona nieder und schrieb sechs Wochen lang.
    Ich beendete Blue Eyes in New York und zeigte es meinem Agenten Hy Cohen. Er sah sich das Titelblatt an: »Wer ist Joseph da Silva?«
    Nachdem ich sieben Romane als Jerome Charyn geschrieben hatte und alle gerade dabei waren, in der Versenkung zu verschwinden, hatte ich mich entschieden, einen nom de guerre zu verwenden. Für Blue Eyes hatte ich eine Familie von Marrano-Gaunern erfunden, die ich Guzmann nannte. Isaac Sidel liefert sich einen Kleinkrieg mit dieser Sippe, und die Guzmanns werden zu Erfüllungsgehilfen von Manfred Coens Tod. Da ich für mich selbst auch so ein Sippengefühl wollte, hatte ich mich für den Marrano-Namen Joseph da Silva entschieden und hoffte, dass sich meine Bücher so besser verkaufen würden als die von Jerome Charyn.
    Aber Hy Cohen überzeugte mich, Jerome zu bleiben: »Junge, du hast sieben Bücher veröffentlicht. Das ist eine Grundlage. Als da Silva fängst du komplett von vorne an. Im Gegensatz zu jemandem, der sieben Bücher veröffentlicht hat, sind Debütanten eine bedrohte Spezies. Die werden dich da draußen zerfleischen.«
    Also veröffentlichte ich Blue Eyes ohne Pseudonym und widmete mich wieder King Jude. Ich schrieb daran in Paris, London, Edinburgh, Connecticut und an der Upper West Side
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