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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire
Autoren: John Irving
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einige der eigenartigen, fremden Geister im Arbuthnot-by-the-Sea ganz natürlich, ihn »Freud« zu nennen. Der Name schien erst recht angemessen, als Freud im Sommer 1937 mit einem neuen Motorrad angereist kam, einer Indian mit einem Beiwagen, den er eigenhändig gebaut hatte.
    »Wer darf hinten sitzen, Freud, und wer kommt in den Beiwagen?« neckten ihn die Mädchen vom Hotel - denn mit den schrecklichen Pockennarben im Gesicht (den »alten Furunkellöchern«, wie er sie nannte) war er so häßlich, daß keine Frau ihn je lieben konnte.
    »Mit mir fährt niemand außer State o' Maine«, sagte Freud, und er löste das Segeltuch-Verdeck über dem Beiwagen. Im Beiwagen saß ein Bär, schwarz wie Ruß, dicker vollgepackt mit Muskeln als selbst Iowa-Bob, wachsamer als jeder streunende Hund. Freud hatte den Bären aus einem Holzfällercamp im Norden von Maine herausgeholt, und er hatte die Direktion des Arbuthnot überzeugt, daß er das Biest dressieren und mit ihm die Hotelgäste unterhalten konnte. Als Freud aus Österreich emigriert und mit dem Schiff von New York aus nach Boothbay Harbour gefahren war, hatte er Arbeitspapiere bei sich, die seine beruflichen Fähigkeiten in Großbuchstaben schilderten: Erfahrung in Dressur und Pflege von Tieren. Gute handwerkliche Begabung. Da keine Tiere verfügbar waren, reparierte er Fahrzeuge für das Arbuthnot und mottete sie fachmännisch für die Monate ein, in denen keine Touristen kamen; er selbst verbrachte diese Zeit als Mechaniker in den Holzfällercamps und Papierfabriken.
    In dieser ganzen Zeit hatte er, wie er später meinem Vater erzählte, nach einem Bären gesucht. Bären, sagte Freud, seien eine Goldgrube.
    Als mein Vater den Mann unterhalb der Veranda vom Motorrad steigen sah, wunderte er sich über die Hochrufe der altgedienten Hotelangestellten; als Freud seinem Passagier aus dem Beiwagen half, war der erste Gedanke meiner Mutter, es sei eine uralte Frau - möglicherweise die Mutter des Motorradfahrers (eine beleibte, in eine dunkle Decke gehüllte Frau).
    »State o' Main!« brüllte jemand in der Band und ließ ein Trompetensignal hören.
    Meine Mutter und mein Vater sahen, wie der Bär anfing zu tanzen. Auf den Hinterbeinen tanzte er von Freud weg; er ließ sich auf alle viere fallen und lief ein, zwei Runden um das Motorrad herum. Freud stand auf dem Motorrad und klatschte in die Hände. Der Bär namens State o' Maine fing ebenfalls an zu klatschen. Als meine Mutter spürte, daß mein Vater ihre Hand in die seine nahm - sie gehörten nicht zu denen, die klatschten -, wehrte sie sich nicht; sie erwiderte den Druck seiner Hand, und beide ließen den massigen Bären, der vor ihnen tanzte, nicht eine Sekunde aus den Augen, und meine Mutter dachte: Ich bin neunzehn, und mein Leben fängt gerade erst an.
    »Hattest du wirklich das Gefühl?« fragte Franny immer.
    »Alles ist relativ«, sagte Mutter dann. »Aber ich hatte wirklich das Gefühl, ja: daß mein Leben anfing.«
    »Heiliger Strohsack«, sagte Frank.
    »War ich es, den du mochtest, oder war es der Bär?« fragte Vater.
    »Red keinen Unsinn«, sagte Mutter. »Es war alles zusammen. Es war der Anfang meines Lebens.«
    Und dieser Satz hatte dieselbe, uns völlig in Bann schlagende Qualität wie Vaters Satz über den Bären (»Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein«). Ich fühlte mich vollkommen in die Geschichte hineingezogen, wenn meine Mutter sagte, dies sei der Anfang ihres Lebens gewesen; es war, als könnte ich sehen, wie in Mutters Leben - wie beim Motorrad - nach langem Warmlaufen endlich der Gang einrastete und es sich schlingernd in Bewegung setzte.
    Und was muß sich mein Vater vorgestellt haben, als er nach ihrer Hand griff, nur weil ein Hummerfänger einen Bären in sein Leben brachte?
    »Ich wußte, es würde mein Bär sein«, sagte Vater zu uns. »Ich weiß nicht, warum.« Und dieses Wissen - daß er etwas sah, was einmal ihm gehören würde - war es vielleicht auch, das ihn die Hand nach meiner Mutter ausstrecken ließ.
    Sie sehen, warum wir Kinder so viele Fragen stellten. Es ist eine vage Geschichte - von der Sorte, wie Eltern sie am liebsten erzählen.
    An diesem ersten Abend, an dem sie Freud und seinen Bären sahen, küßten sich mein Vater und meine Mutter nicht einmal. Als die Band Schluß machte und das Dienstpersonal sich in die Männer- und Frauenschlafräume zurückzog - es waren die etwas weniger eleganten Gebäude abseits vom Hotel -, da gingen mein Vater und meine Mutter hinunter
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