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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire
Autoren: John Irving
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›Schlecht und schlecht gesellt sich gern.‹« Und Franny, ob acht oder zehn oder fünfzehn oder fünfundzwanzig, verdrehte dann immer die Augen und stieß mir den Ellbogen in die Rippen oder kitzelte mich, und wenn ich zurückkitzelte, brüllte sie: »Perverser Kerl! Befingert die eigene Schwester!« Und ob Frank nun neun oder elf oder einundzwanzig oder einundvierzig war, sexuelle Themen und Zurschaustellungen wie die von Franny waren ihm schon immer verhaßt, und so sagte er rasch zu Vater: »Laß nur. Wie war denn das mit dem Motorrad?«
    »Nein, erzähl weiter vom Sex«, sagte dann Lilly völlig humorlos zu Mutter, und Franny fuhr mir mit der Zunge ins Ohr oder machte mit den Lippen ein furzendes Geräusch an meinem Hals.
    »Jedenfalls«, sagte Mutter, »redeten wir in gemischter Gesellschaft nicht offen über Sex. Es wurde geschmust und geknutscht, mehr oder weniger heftig; das geschah gewöhnlich in einem Auto. Es gab immer stille Gegenden, wo man parken konnte. Natürlich mehr Feldwege als heute, nicht so viele Menschen und nicht so viele Autos - und die Autos, das waren damals keine Kleinwagen.«
    »So daß ihr euch schön langlegen konntet«, sagte Franny.
    Mutter warf Franny einen mißbilligenden Blick zu und fuhr mit ihrer Darstellung der Vergangenheit fort. Sie war eine wahrheitsliebende, aber langweilige Geschichtenerzählerin - mit meinem Vater gar nicht zu vergleichen -, und immer wenn wir sie beizogen, um den Wahrheitsgehalt einer Geschichte festzustellen, bereuten wir das hinterher.
    »Lieber soll der alte Herr immer weitererzählen«, meinte Franny, »Mutter nimmt alles so ernst.« Frank blickte finster drein, und Franny forderte ihn auf: »Spiel doch ein bißchen mit deinem Ding, Frank, dann fühlst du dich wohler.«
    Aber Frank blickte nur noch finsterer drein. Dann sagte er: »Du würdest eine bessere Antwort bekommen, wenn du Vater erst mal nach dem Motorrad oder nach etwas Konkretem fragen würdest; stattdessen kommst du mit diesen allgemeinen Dingen, Kleidern, Bräuchen, sexuellen Gewohnheiten.«
    »Frank, erklär doch mal, was Sex ist«, sagte Franny, doch Vater rettete uns alle, indem er mit seiner verträumten Stimme sagte: »Glaubt mir, sowas wär heute nicht mehr möglich. Ihr denkt vielleicht, ihr habt mehr Freiheit, aber ihr habt auch mehr Gesetze. Der Bär wäre heute nicht mehr möglich. Sie würden ihn gar nicht zulassen .« Und in dem Augenblick verstummten wir, unsere ganzen Streitereien waren schlagartig vergessen. Wenn Vater redete, konnten sogar Frank und Franny in Reichweite voneinander sitzen, ohne sich zu zanken. Ich konnte dann so dicht neben Franny sitzen, daß ich sogar ihr Haar in meinem Gesicht und ihr Bein an meinem Bein spürte, doch wenn Vater redete, dachte ich überhaupt nicht an Franny. Lilly saß dann totenstill (wie das nur Lilly konnte) auf Franks Schoß. Egg war gewöhnlich zu jung, um zuzuhören oder gar etwas zu begreifen, aber er war ein ruhiges Kind. Selbst wenn Franny ihn auf den Schoß nahm, war er still; bei mir auf dem Schoß schlief er immer ein.
    »Er war ein Schwarzbär«, sagte Vater; »er wog dreieinhalb Zentner und war ein bißchen widerspenstig.«
    »Ursus americanus«, murmelte Frank. »Und er war unberechenbar.«
    »Ja«, sagte Vater, »aber doch ganz gutmütig, die meiste Zeit jedenfalls.«
    »Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein«, sagte Franny andächtig.
    Das war der Satz, mit dem Vater gewöhnlich anfing - mit dem er auch damals anfing, als ich, soweit ich mich erinnern kann, die Geschichte erstmals zu hören bekam. »Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein.« Ich saß bei dieser Fassung auf dem Schoß meiner Mutter, und ich kann mich erinnern, daß ich das Gefühl hatte, auf immer an die Zeit und den Ort gefesselt zu sein: Mutters Schoß, Franny auf Vaters Schoß neben mir, Frank aufrecht und abseits - im Schneidersitz auf dem abgewetzten Perserteppich, daneben unser erster Familienhund, Kummer (der eines Tages eingeschläfert werden sollte wegen seiner schrecklichen Furzerei). »Er war zu alt, um noch ein Bär zu sein«, fing Vater an. Ich sah Kummer an, unseren vertrottelten und treuen Labrador, und er wuchs vor meinen Augen bis zur Größe eines Bären und wurde dann alt und sackte neben Frank in stinkender Verfilztheit zusammen, bis er wieder bloß ein Hund war (auch wenn Kummer nie »bloß ein Hund« war).
    Ich kann mich bei diesem ersten Mal nicht an Lilly oder Egg erinnern - sie müssen noch so klein gewesen sein, daß sie
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