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Das Hotel New Hampshire

Das Hotel New Hampshire

Titel: Das Hotel New Hampshire
Autoren: John Irving
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jedem Jahr, so blickte sie in die Zukunft, würden die Jungs von der Dairy School jünger werden - bis schließlich keiner mehr daran interessiert sein würde, sie nach Boston zurückzuverfrachten.
    Mary Bates war mit Winslow Berry groß geworden, doch sie hatten sich höchstens mal zugenickt oder einen kurzen Blick des gegenseitigen Erkennens ausgetauscht. »Irgendwie haben wir immer über den anderen hinausgeschaut, ich weiß nicht, warum«, erzählte Vater uns Kindern - vielleicht bis sie sich erstmals außerhalb der vertrauten Umgebung sahen, in der sie beide groß geworden waren: der Stadt Dairy und des Campus der Dairy School, die beide nichts Ganzes und nichts Halbes waren.
    Als das Thompson Female Seminary meine Mutter im Juni 1939 nach bestandenem Examen entließ, stellte sie gekränkt fest, daß die Dairy School ihre Abschlußfeier bereits hinter sich hatte und geschlossen war; die interessanteren, auswärtigen Schüler waren nach Hause gefahren, und ihre zwei, drei »Beaus« (wie sie sie nannte) - von denen sie vielleicht eine Einladung zu ihrem eigenen Abschlußball hätte erhoffen können - waren fort. Sie kannte keinen der Jungs von der einheimischen High School, und als ihre Mutter Win Berry vorschlug, rannte meine Mutter aus dem Eßzimmer. »Warum denn nicht gleich Coach Bob!« schrie sie ihre Mutter an. LateinEmeritus, ihr Vater, der ein Nickerchen gemacht hatte, hob den Kopf von der Tischplatte.
    »Coach Bob?« sagte er. »Ist der Schwachkopf wieder hier, um sich den Schlitten auszuleihen?«
    Coach Bob, den sie auch Iowa-Bob nannten, war kein Schwachkopf, aber für Latein-Emeritus, dessen Zeitgefühl seit dem Schlaganfall offenbar durcheinander war, gehörte der gedungene Kraftprotz aus dem mittleren Westen nicht in eine Klasse mit dem regulären Lehrkörper. Und vor Jahren, als Mary Bates und Win Berry noch Kinder gewesen waren, war Coach Bob einmal gekommen, um sich einen alten Schlitten auszuleihen, von dem jeder wußte, daß er schon drei Jahre lang ungenutzt bei den Bates im Garten gestanden hatte.
    »Hat der Trottel denn ein Pferd dafür?« hatte LateinEmeritus seine Frau gefragt.
    »Nein, er will ihn selber ziehen!« sagte die Mutter meiner Mutter. Und die Familie Bates stand am Fenster und sah zu, wie Coach Bob den kleinen Win auf den Kutschersitz hievte, das Ortscheit mit den Händen hinter seinem Rücken umklammerte und den Schlitten in Bewegung setzte; der gewaltige Schlitten glitt über den Schnee und hinunter auf die glatte Straße, die zu der Zeit noch von Ulmen eingefaßt war - »So schnell, als hätte ein Pferd ihn gezogen!« sagte meine Mutter immer.
    Iowa-Bob war der kleinste Innenverteidiger gewesen, der jemals in der Liga der ›Großen Zehn‹ einen Stammplatz in einer Footballmannschaft gehabt hatte. Sein Einsatz war, wie er einmal zugab, so groß, daß er einen gegnerischen Angreifer biß, nachdem er ihn zu Fall gebracht hatte. An der Dairy School trainierte er zusätzlich zu seinen Pflichten als Football-Coach auch noch die Kugelstoßer und all diejenigen, die sich fürs Gewichtheben interessierten. Doch für die Familie Bates war Iowa-Bob zu unkompliziert, als daß man ihn hätte ernst nehmen können: ein komischer, untersetzter Kraftmensch, dessen Haare so kurz geschnitten waren, daß er glatzköpfig wirkte; und ständig sah man ihn durch den Ort traben - »gekrönt mit einem Schweißband von abscheulicher Farbe«, wie Latein-Emeritus zu sagen pflegte.
    Da Coach Bob noch lange lebte, war er von den Großeltern der einzige, an den wir Kinder uns erinnern konnten.
    »Was ist das für ein Geräusch?« fragte Frank einmal beunruhigt mitten in der Nacht, nachdem Bob zu uns gezogen war.
    Was Frank hörte und was wir danach noch oft hören sollten, waren die knarrenden Liegestütze und die ächzenden Sit-ups des alten Mannes auf seinem Fußboden (unserer Decke) über uns.
    »Das ist Iowa-Bob«, flüsterte Lilly einmal. »Er möchte ewig in Form bleiben.«
    Jedenfalls war es nicht Win Berry, der Mary Bates zu ihrem Abschlußball führte. Der Pfarrer der Familie, der erheblich älter war als meine Mutter, aber ledig, war so nett, sie einzuladen. »Es wurde ein langer Abend«, erzählte uns Mutter. »Ich war niedergeschlagen. Ich war in meinem eigenen Heimatort eine Außenseiterin. Doch nur wenig später war es eben dieser Pfarrer, der euren Vater und mich traute!«
    Das hätten sie sich nicht träumen lassen, als sie zusammen mit den anderen Aushilfskräften, die für die
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