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Das Hospital der Verklärung.

Das Hospital der Verklärung.

Titel: Das Hospital der Verklärung.
Autoren: Stanislaw Lem
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unerbittliche Strenge triumphierte weitere Jahre hindurch; bis zum nächsten Begräbnis blieb die Lage unverändert.
    Diese Beharrlichkeit Onkel Anzelms und seiner Gemütsbewegungen hatte Stefan in seiner Kindheit einfach imponiert; später, in seinen Studienjahren, begriff er ihren Mechanismus wenigstens teilweise. Einst hatte nämlich hinter Onkels gewaltigem Groll die materielle Macht seiner Güter gestanden, das heißt, verständlicher ausgedrückt, das Erbe war im Spiel; aber dank Anzelms unbeugsamem Charakter überdauerte seine nachtragende Haltung gegenüber der Familie den Verlust seines Vermögens, so daß er auch weiterhin gefürchtet wurde, obgleich ja nun keine Enterbung mehr drohte. Doch selbst als Stefan diesen Schlüssel entdeckt hatte, vermochte er nicht, sich völlig von diesem durch Achtung und Angst bestimmten Gefühl zu befreien. Der kalte Braten fand sich unerwartet im Speisezimmer selbst an, er stand in dem schwarzen Büfett; als dieses ungeheure Stück Fleisch aus dem Schlund des alten Möbels gezogen wurde, verschmolz dessen schwarze Farbe in Stefans Einbildung mit der des Sarges, und einen Augenblick lang war ihm unwohl. Da wurden unter Lärmen und Stampfen eine stattliche Anzahl gebratener Enten, Schalen mit herbem Preiselbeermus und Schüsseln voll dampfender Kartoffeln zur Flurtür hereingetragen; der, wie angekündigt, »bescheidene Imbiß« hatte sich ganz offensichtlich in ein zünftiges Festessen verwandelt, zumal da Onkel Ksawery obendrein eine Flasche Wein nach der anderen aus dem Büfett hervorzauberte. Die Kluft, die Stefan von den Anwesenden trennte, war immer größer geworden; die ganze Zeit über hatten ihn schon der Ton der Unterhaltung und die Geschicklichkeitbefremdet, mit der man jede Erwähnung des Todes vermied, der doch der einzige Anlaß dieser Begegnung war. Jetzt aber hatte Stefans Ärger den Höhepunkt erreicht, und er nahm an allem Anstoß, die Klagen über das verlorene Vaterland eingeschlossen, die von hastigen Bewegungen der Messer, der Gabeln und der Kiefer begleitet waren. Als er sich dann Onkel Leszeks erinnerte, der da auf dem öden Friedhof unter der Erde lag, glaubte Stefan, er sei wohl der einzige, der noch an ihn denke. Unwillig betrachtete er die geröteten Gesichter der Speisenden; seine Entrüstung überschritt die Grenzen der Familie und nahm die Form einer allgemeinen Weltverachtung an. Im Augenblick konnte er sie freilich nur durch Abstinenz beim Essen demonstrieren, was er so erfolgreich tat, daß er fast hungrig vom Tisch aufstand.
    Bevor es jedoch soweit war, trat an dem bisher schweigenden Grzegorz Niedzic, seinem linken Nachbarn, eine Wandlung zutage. Seit einer ganzen Weile schon wischte er sich umständlich den Schnurrbart, warf scheue Blicke nach allen Seiten und zur Tür, als wollte er mit den Augen die Entfernung messen; zweifellos plante er etwas. Plötzlich beugte er sich zu Stefan und teilte ihm flüsternd mit, er müsse nunmehr gehen, da sein Zug nach Posen bald fahre.
    »Was, mitten in der Nacht willst du fahren?« fragte Stefan ein wenig gedankenlos.
    »Ja, ich muß nämlich morgen früh wieder zur Arbeit.«
    Grzegorz suchte Stefan klarzumachen, daß die Polen dort im Posenschen von den Deutschen kaum geduldet würden und er nur unter großen Schwierigkeiten einen Tag Urlaub erwirkt habe; er sei die Nacht durchgefahren, und nun sei es höchste Zeit, an die Heimreise zu denken … Ohne seine unbeholfene Rede zu Ende zu führen, schöpfte der große Mann mit dem Schnurrbart plötzlich tieferLuft, erhob sich ungestüm, wobei er um ein Haar die Tischdecke mit allem, was darauf stand, heruntergerissen hätte, und drängte, blindlings nach allen Seiten dienernd, zur Tür. Fragen, Protestrufe wurden laut, doch der hartnäckige Schweiger verneigte sich auf der Schwelle noch einmal in alle Richtungen und verschwand im Vorzimmer. Onkel Ksawery lief hinterdrein; bald darauf fiel die Haustür laut ins Schloß. Stefan schaute zum Fenster. Draußen herrschte bereits Dunkelheit. In Gedanken sah er eine hohe Gestalt im knappen Soldatenmantel über die schlammige Straße schreiten … Er blickte auf den verlassenen Stuhl zur Linken, bemerkte, daß die gestärkten Fransen der tief herabhängenden Decke in emsiger Fingerarbeit fein säuberlich entwirrt und sorgfältig auseinandergekämmt worden waren, und er wurde von herzlichem Mitleid mit diesem doch recht unbekannten fernen Vetter ergriffen, der sich zwei Nächte in einem unbeleuchteten und
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