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Das Hospital der Verklärung.

Das Hospital der Verklärung.

Titel: Das Hospital der Verklärung.
Autoren: Stanislaw Lem
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beisammen gesehen zu haben. Das gab zu denken, da es selten vorkam, daß sich alle vertrugen. Eigentlich herrschte Eintracht nur bei Leichenbegängnissen, die die Verwandten an einem Tisch vereinigten. War damals zu Weihnachten auch keiner von den Nächsten gestorben, so berührte sie der allgemeine Schmerz doch gleichermaßen tief: Es war noch nicht lange her, daß sie das Vaterland zu Grabe getragen hatten, und so bildete jene Friedfertigkeit doch keine Ausnahme von der Regel.
    Stefan fühlte sich in dieser Gesellschaft nicht wohl, und das aus mehreren Gründen. Einmal liebte er große, vor allem feierliche Zusammenkünfte überhaupt nicht, zumanderen saß ihm gegenüber der Priester, und er ahnte, daß die Anwesenheit so einer heiligen Person Ksawery unweigerlich zu Gotteslästerungen und Sticheleien provozieren würde; Skandale aber waren ihm zuwider, und letztlich war ihm etwas unbehaglich zumute, weil sein Vater, den er hier vertrat, als der erste Erfinder in diesem Geschlecht von Gutsbesitzern und Ärzten nicht gerade den besten Ruf genoß, zumal da er, wenngleich schon an die Sechzig, bisher eigentlich keine einzige Erfindung vorzuweisen hatte.
    Auch der Umstand, daß Grzegorz Niedzic neben ihm saß, war nicht angetan, Stefans Laune zu heben. Dieser Grzegorz schien der geborene Schweiger zu sein, denn alle Versuche, eine Unterhaltung anzuknüpfen, quittierte er lediglich mit einem noch freundlicheren Lächeln und hob seinen warmen Blick voll Sympathie vom Teller; das aber genügte Stefan nicht, er hatte das Bedürfnis, sich in ein Gespräch zu vertiefen, um so mehr, als er Onkel Ksawerys Augen schon verräterisch blitzen sah, der unter Garantie etwas im Schilde führte. Und in der Tat, kaum war es einmal verhältnismäßig still geworden und nur das Klirren der Löffel gegen die Teller zu hören, da legte der Onkel los: »Na, mein lieber Stefan, du hast dich in der Kirche doch sicherlich gefühlt wie der Eunuch im Harem, wie?«
    Diese Bemerkung war auf Umwegen an den Priester gerichtet, und der Onkel hatte gewiß schon eine zugespitzte Fortsetzung in petto, doch es war ihm nicht vergönnt, die Wirkung seiner Worte auszukosten, da die Verwandten wie auf Geheiß furchtbar schnell und laut zu reden anfingen. Sie kannten doch ihren Ksawery: Der mußte solche Dinge einfach sagen, und sie wußten auch, das einzige Mittel dagegen war, seine Äußerungen durch allgemeine, lärmende Unterhaltung zu übertönen. Zudemwurde der Onkel von einer der Bäuerinnen, die in der Küche aushalfen, hinausgerufen, um den kalten Braten zu suchen, der verschollen war. So erfuhr die Mahlzeit eine unvorhergesehene Pause. Stefan suchte sie sich zu verkürzen, indem er die Gesichterkollektion der Familie betrachtete. Den ersten Platz räumte er ohne weiteres Onkel Anzelm ein. Breit und stämmig, aber nicht dick, eher massiv von Gestalt, hatte Anzelm kein schönes, doch gewissermaßen ein herrschaftlich hochmütiges Gesicht, das er großartig zur Schau zu tragen verstand. Man hätte meinen können, dieses stolze Antlitz sei neben der Bärenpelzjoppe das einzige Überbleibsel von seinem Glanz, den großen Ländereien, die er vor zwanzig Jahren verloren hatte, angeblich, weil er zahlreichen Lastern gefrönt hatte. Stefan wußte jedoch nichts Bestimmtes darüber; allgemein bekannt war lediglich, daß Anzelm energisch, gütig und jähzornig zugleich war. Nachtragend konnte er sein wie kein zweiter in der Familie – fünf, ja sogar zehn Jahre lang, so daß selbst Tante Melania zu vergessen pflegte, was eigentlich der Anlaß gewesen sein sollte. Keiner wagte es, in einem so lange währenden Streit zu intervenieren, da das Eingeständnis, die Ursache seines Zorns nicht zu kennen, den ungeschickten Vermittler automatisch in den Bannfluch des Onkels einbezog. Auf diese Weise hatte sich einst Stefans Vater die Finger verbrannt. Jedoch alle noch so übermächtigen feindseligen Gefühle kamen in Onkel Anzelm, wie überhaupt in der ganzen Familie, zum Schweigen, wenn ein Verwandter starb; eine solchermaßen hervorgerufene »Treuga Dei« währte je nach den Umständen bis zu vierzehn Tagen. Während dieses Waffenstillstandes strahlte seine angeborene Güte aus jedem Wort und jedem Blick, und zwar so unerschöpflich, so voll Nachsicht, daß Stefan jedesmal zutiefst überzeugt war, der Zwist sei nicht aufgeschoben, sondern beigelegt.
    Bald darauf aber stellte sich die durch den Todesfall gestörte Ordnung in den Gefühlen des Onkels wieder her, die
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