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Das Hospital der Verklärung.

Das Hospital der Verklärung.

Titel: Das Hospital der Verklärung.
Autoren: Stanislaw Lem
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Argumentation: Das sei alles ungereimtes Zeug, der Sarg beherberge nicht den Onkel, sondern irgendein Überbleibsel von ihm, die Überreste seiner Person, die so peinlich und lästig sind, daß man diese ziemlich langatmige, komplizierte und unecht wirkende Geschichte ersonnen und in Szene gesetzt habe, um sie aus dem Bereich der Lebenden zu entfernen.
    Unterdessen schritt Stefan mit den anderen hinter dem Sarge her, der auf das sperrangelweit geöffnete Friedhofstor zusteuerte. Der Trauerzug bestand aus etwa zwanzig Personen; in einiger Entfernung von dem Sarg machten sie einen recht sonderbaren Eindruck, denn ihre Kleidung war ein Mittelding zwischen Reisekluft – fast alle waren von weit her gekommen – und Besuchsgarderobe, wobei die schwarze Farbe überwog. Dazu trugen die meisten der Herren englische Schaftstiefel, und einige Damen gingen in stiefelähnlichen, sehr hohen Schnürschuhen mit Pelzbesatz. Einer der Herren – Stefan konnte ihn von hinten nicht erkennen – hatte einen Soldatenmantel ohne Dienstgradabzeichen um; die Schulterstücke schienen gewaltsam abgerissen. Dieser eng gegürtete Mantel, der Stefans Blick längere Zeit fesselte, war hier das einzige, was an die Kriegsereignisse vom September erinnerte – doch nein, entschied Stefan im nächsten Augenblick, auch die Abwesenheit derer, die unter anderen Umständen ganz gewiß gekommen wären, so Onkel Antoni und VetterPiotr, beide in deutscher Gefangenschaft, war ein beredtes Zeugnis.
    Der Gesang, vielmehr das Lamentieren der Bäuerinnen, die immer wieder »Gib ihm deinen Frieden, o Herr« anstimmten, war Stefan nur kurze Zeit lästig, denn bald drang er nicht mehr in sein Bewußtsein. Der Zug dehnte sich, ballte sich am Friedhofseingang zusammen und folgte dann im Gänsemarsch zwischen Gräbern hindurch dem hochgereckten Sarg. An der offenen Grube hoben die Gebete von neuem an. Stefan waren sie schon über, und er mußte sogar denken, wenn er gläubig wäre, so würde er diese unausgesetzte Wiederholung von Bitten als Aufdringlichkeit gegenüber dem Wesen empfinden, an das sie gerichtet wurden.
    Ehe diese letzte Erwägung in ihm vollends Gestalt angenommen hatte, zupfte ihn jemand am Ärmel. Er wandte sich um und blickte in das breite, vom Pelzkragen eingerahmte, adlernasige Gesicht Onkel Anzelms, der ihn wie vorhin unbekümmert laut fragte: »Hast du heute schon was gegessen?« und, die Antwort gar nicht erst abwartend, rasch hinzufügte: »Brauchst nichts zu befürchten, es gibt Bigos!« Darauf klopfte er Stefan auf den Rücken und eilte gebeugt durch die Reihen der noch immer dem leeren Grab zugewandten Trauernden. Er tippte jeden einzelnen mit dem Finger an und bewegte dabei die Lippen, was Stefan sehr verwunderte, bis er das Verhalten des Onkels enträtselte: Anzelm zählte ganz einfach die Anwesenden. Nun erteilte er einem Burschen mit dröhnendem Flüstern eine Weisung; der zog sich mit ungelenkem Kratzfuß aus dem schwarzen Kreis zurück, hinter dem Friedhofstor aber nahm er die Beine in die Hand und rannte stracks zu Ksawerys Haus.
    Onkel Anzelm, der seine Gastgeberrolle ausgespielt hatte, stellte sich, war es nun Absicht oder Zufall, wiederneben Stefan ein und fand sogar Muße, ihn auf den malerischen Anblick aufmerksam zu machen, den die um das Grab Gescharten boten. Eben hoben vier hochgewachsene Bauern den Sarg mit Stricken an und ließen ihn in das gähnende Loch hinab, bis er auf dem Boden ruhte. Da er jedoch ein wenig schief lag, mußte ihm einer der Bauern, am Grubenrand festgekrallt, einen ordentlichen Tritt versetzen. Eine solche Rücksichtslosigkeit bei einem Gegenstand, der bislang von unermüdlicher Ehrerbietung umgeben war, war Stefan peinlich. Er sah darin einen weiteren Beweis für seine These, daß die Lebenden bei aller Zünftigkeit des Verfahren, mit dem sie den entsetzlich schroffen Übergang vom Leben zum Tode abzumildern suchen, doch keine einheitliche und konstante Haltung den Toten gegenüber zu finden vermögen.
    Als die Spaten, die mit einem an Verbissenheit grenzenden Eifer betätigt wurden, das Grab zugeschaufelt und ein längliches Lehmprisma darüber geformt hatten, kam die kriegsbedingte Behelfsmäßigkeit dieser Beerdigung besonders kraß zum Ausdruck; es war nämlich unvorstellbar, daß man das Grab eines Trzyniecki verließ, ohne es mit Blumen überschüttet zu haben, doch in diesem ersten Winter nach dem Septemberfeldzug war schwerlich daran zu denken. Selbst die Treibhäuser auf dem nahen Gut
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