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Das Herz kennt die Wahrheit

Das Herz kennt die Wahrheit

Titel: Das Herz kennt die Wahrheit
Autoren: Ruth Langan
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nieder und blickte starr auf die Schiffe unten im Hafenbecken. Er hatte die elendste Nacht seines Lebens hinter sich. Bislang hatte er immer geglaubt, nichts könne schlimmer sein als jene Nacht, in der er ohne jegliche Erinnerung aufgewacht war und festgestellt hatte, dass sein Körper mit Brandwunden und Narben übersät war. Es war wie ein grässlicher Albtraum gewesen. Doch jetzt verspürte er einen Schmerz, der ihn bis an sein Lebensende verfolgen würde.
    Vielleicht kam ihm die jetzige Lage auch schlimmer vor, weil er sich genau an alles erinnern konnte. Das Entsetzen auf Darcys Gesicht, als sie ihn mit den kurzen Haaren im Spiegel gesehen hatte. Der unendliche Schmerz in ihrem Augenausdruck, als ihr klar geworden war, dass er sie für immer verlassen würde.
    Für immer.
    Ja. Es war wohl besser so.
    Aber warum fühlte er dann einen so stechenden Schmerz?
    Mit einem wilden Fluch stand er auf und ging zur Treppe. Es hatte keinen Sinn, in dieser Kammer zu hocken, wo ihm noch elender zu Mute war. Genauso gut könnte er sich zu den Seeleuten gesellen und mit ihnen trinken. Das Ale würde nichts wieder in Ordnung bringen, aber vielleicht ließe sich der Kummer ein wenig lindern.
    Auf halber Treppe erblickte er den alten Seemann in der Tür. Einen Moment lang war Gryf versucht, kehrtzumachen und sich in der Dachkammer zu verstecken. Doch dann fluchte er leise und ging die restlichen Stufen hinunter.
    Eine Schankmagd näherte sich, als Newton die Schankstube erreichte.
    "Whisky." Gryf setzte sich an einen zerfurchten Holztisch.
    "Für mich dasselbe", sagte der alte Mann. Er nahm gegenüber von Gryf Platz.
    "Hat sie dich geschickt, Newt?"
    "Nein, das Mädchen weiß nicht, dass ich hier bin. Ihre Schwestern baten mich, dich aufzusuchen. Wie es scheint, fühlen sie sich schuldig, weil sie sich in Darcys Leben eingemischt haben. Sie haben ihre Schwester dazu getrieben, dir die Haare zu schneiden." Er hielt inne und betrachtete Gryf eingehend. "Du siehst ihm jetzt wirklich noch ähnlicher."
    Wütend schlug Gryf mit der Faust auf den Tisch. "Es interessiert mich nicht, wem ich ähnlich sehe. Ich kann nicht jemand sein, den ich nicht einmal kenne. Es ist schon hart genug, ich selbst sein zu müssen."
    Der alte Mann schwieg.
    Da ihm der Wutausbruch unangenehm war, fuhr Gryf mit leiser Stimme fort: "Verstehst du denn nicht, Newt? Ich bin ein Mann, der keine Vergangenheit hat. Ich habe keine Erinnerung an meine Kindheit. Ich weiß nicht, wie meine Eltern aussahen. Hatte ich Schwestern oder Brüder? Wer waren meine Freunde? Ich weiß nicht einmal, ob ich andere Frauen geliebt habe." Seine Stimme begann zu zittern. "Oder ob ich womöglich der Vater von mehreren Kindern bin."
    "Ich weiß, es ist schwer für dich", erwiderte Newton mitfühlend.
    "Schwer?" Gryf kniff die Augen zusammen. Er wartete, bis die Schankmagd die Getränke auf dem Tisch abgestellt und sich wieder entfernt hatte.
    Dann nahm er das Whiskyglas und leerte es in einem Zug. Unsanft stellte er es wieder auf den Tisch. Sogleich kehrte die Schankmagd zurück und füllte nach. Als sie fortging, umschloss Gryf das Glas mit beiden Händen und starrte auf den Mann, der ihm gegenübersaß.
    Schließlich sagte er: "Ich habe mir selbst etwas vorgemacht, Newt. Und auch Darcy. Ich habe kein Recht, eine Frau wie sie zu haben. Kein Recht." Erneut leerte er das Glas in einem Zug. "Ich habe die ganze Nacht wach gelegen und über sie nachgedacht. Über uns. Ich bin nicht der Richtige für sie." Seine Stimme wurde weich und zittrig. "Sie ist so gut und anständig und liebevoll." Mit einem Kopfschütteln fügte er hinzu: "Und ich weiß nicht, wer oder was ich bin. Ich könnte ein Mörder sein. Ein Dieb. Einer, der sich nach jedem Weiberrock umdreht."
    Ehe der alte Mann etwas entgegnen konnte, fügte Gryf rasch hinzu: "Sie hat eine Familie, die sie liebt. Vertraute und Freunde, die ihr zur Seite stehen. Gute Freunde wie dich und Winnie oder Mistress Coffey. Sie wird sich wieder fangen. Warte nur ab." Die Wehmut in seiner Stimme drohte ihn zu überwältigen. "In einem Jahr wird sie sich nicht einmal an meinen Namen erinnern."
    Er winkte die Schankmagd an den Tisch, die sogleich sein Glas füllte.
    Newton schaute ihn weiterhin unverwandt an, ohne einen einzigen Schluck von seinem Whisky zu nehmen.
    "Und was ist mit dem Jungen?"
    "Whit?" Eine Woge des Schmerzes erfasste ihn, und er biss die Zähne zusammen. "Ich habe beobachtet, wie er sich auf MaryCastle eingelebt hat. Durch die Liebe
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