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Das Herz ist eine miese Gegend

Das Herz ist eine miese Gegend

Titel: Das Herz ist eine miese Gegend
Autoren: Thommie Bayer
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Schmerzen?« fragte das Mädchen.
    »Nein«, sagte Giovanni, »wie heißt du?«
    »Laura«, sagte das Mädchen und lächelte.
    »Hat man dir nicht beigebracht, daß eine rote Ampel halt heißt?« fragte der Mann am Steuer, und man hörte seiner Stimme die ärgerliche Besorgnis über Giovannis Zustand und den eben ausgestandenen Schrecken an.
    »War dunkelgrün«, sagte Giovanni.
    Das Mädchen lachte.
    Ob der Mann auch lachte, konnte Giovanni nicht feststellen, aber da das Sprechen die Schmerzen zu lindern schien, fragte er, was mit seinem Fahrrad sei.
    »Vergiß es«, sagte der Mann, und das Mädchen schien empört, denn es sagte: »Papa.«
    Jetzt lachte Giovanni. Allerdings etwas gequält, denn sein Kinn fühlte sich an, als wäre es zerfetzt.
    Die Zeit im Krankenhaus war schön, trotz der Schmerzen, die nur allmählich nachließen. Bo kam fast jeden Nachmittag und erzählte von Janine. Noch genauso begierig wie vor einem halben Jahr sog Giovanni Bos Geschichten auf, denn seit Marie Claire war Janine schon die Vierte, und alles, was Giovanni an sexuellen Erlebnissen verwehrt blieb, tat Bo längst mit wachsender Kenntnis und Begeisterung.
    Als Marie Claires Vater nach Frankreich zurückversetzt wurde, hatte sie es zum Abschied mit ihm getan. Bo hatte sich daraufhin eine Glatze schneiden lassen. Um seinen neuen Lebensabschnitt nachher im Fotoalbum jederzeit erkennen zu können. Noch mit der Glatze als Trumpf hatte er ein Mädchen auf der Straße angesprochen und ihre mit Abscheu gemischte Faszination für seinen blankrasierten Schädel zum Anbändeln genutzt. Schon in der folgenden Woche war er am Ziel gewesen, und wieder eine Woche später hatte er Schluß gemacht, um eine neue Französin einzufangen. Das Reservoir in den Garnisonswohnblocks schien unerschöpflich, und Bo wurde immer dreister. Er nahm Ohrfeigen als Zustimmung, Spott als Bestätigung und kopierte alle Draufgängerrollen, die er in Filmen gesehen hatte. Von Belmondo bis Charlton Heston war ihm jede Charge geläufig, denn da er älter aussah, ließ man ihn schon seit einiger Zeit in jeden nicht jugendfreien Film.
    Haarklein hatte er seine Fortschritte erzählt, und Giovanni, der, so süchtig er nach diesen erregenden Berichten war, davon immer trauriger wurde, geriet nach und nach in eine immer größere Entfernung zu seinem zusehends erwachsener werdenden Freund.
    Im Augenblick schrie Giovanni gerade vor Schmerzen und Lachen, denn Bo, der für ihn den Reisauflauf in den Abfluß des Waschbeckens spülte, hatte zuerst mit grandioser Gebärde auf den gefüllten Teller gezeigt, »Reisauflauf!« gesagt und dann die ungenießbare Pampe in die Kanalisation geschickt. Eine traurige Clownsgrimasse schneidend, deutete er nun in das Becken und sagte mit Grabesstimme: »Reis ab auf!«
    Das Lachen tat der Seele gut und dem Kinn weh. Gebrochen hatte Giovanni zwar nur Schlüssel- und Wadenbein, aber die Schürfwunde am Kinn war tief und schmerzte am meisten.
    »Hör auf«, rief er unter Tränen. »Es tut weh.«
    Niemand außer ihnen beiden war im Zimmer, als sich die Tür öffnete und Laura, das Mädchen aus dem Auto, ihren Kopf hereinstreckte.
    »Ich soll dich von meinem Vater fragen, wie’s dir geht«, sagte sie und legte, ohne zur Seite auf Bo zu schauen, eine Schachtel Pralinen auf Giovannis Bett.
    »Och«, sagte er nur, denn es ging ihm doppelt. Gut und schlecht zugleich.
    »Das ist Bo«, fuhr er fort, da sie keine Antwort gab.
    »Tag«, sagte sie.
    »Hallo«, sagte Bo und schien wie verwandelt. Die ausgelassene Albernheit von eben war verschwunden, und er lehnte lässig am Nebenbett, stocherte mit dem Fingernagel in den Zähnen und sah Laura direkt an.
    Giovanni, dem das peinlich war, sagte: »Glotz doch nicht so.« Und zu Laura, die dastand, als wolle sie gleich wieder gehen: »Setz dich doch.«
    Er schob seine Beine zur Seite, damit sie sich aufs Bett setzen konnte, und sie tat es, ohne auf Bo zu achten, der sich jetzt verabschiedete und sagte, er müsse noch was erledigen.
    »Bis morgen, Tschau.«
    Giovanni legte Laura die Pralinen in den Schoß.
    »Ich hab gelacht; ich kann nicht essen. Magst du?«
    »Gern.« Sie riß die Folie von der Packung. »Hab mich unterwegs schon beherrscht, daß ich dir keine klaue.«
    Sie aß eine Praline nach der anderen und sah sich in dem tristen Vierbettzimmer um. Die blonden Haare fielen ihr in die Stirn, und sie strich sie mit einer fahrigen Gebärde immer wieder in die Form, in der sie nicht bleiben wollten, zurück. Sie
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