Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Herz ist eine miese Gegend

Das Herz ist eine miese Gegend

Titel: Das Herz ist eine miese Gegend
Autoren: Thommie Bayer
Vom Netzwerk:
der den Kollegen, denen das Strafen nicht so großen Spaß machte, diese Arbeit freudig abnahm. Er wurde gerufen, wann immer sich jemand außerstande fühlte, auf eine besonders gelungene Missetat angemessen zu reagieren. Winkler reagierte immer angemessen. Er beherrschte den besonders schmerzhaften Griff in die Haare vor den Ohren und liebte es, weite Strecken mit einem straffälligen Schüler in diesem Griff zurückzulegen. Ebenso beherrschte er das besonders grimmige Gesicht, das normalerweise bis mindestens zur zehnten Klasse hinauf reichte, die Schüler wie hypnotisierte Kaninchen zu lähmen. Giovanni hatte Angst vor Winkler. Bo nicht.
    So kam auch von Bo die Idee, Winkler eine Botschaft aus dem Jenseits zukommen zu lassen. Dem Jenseits stand Giovanni seit der Sache mit der Maus recht aufgeschlossen gegenüber, und am Nachmittag nach dem Schulhof-Fegen gingen sie zusammen durch das leere, dämmerige Schulhaus in Winklers Klasse, um dort mit Ölkreide »Winkler ist Pfusch von Gott« an die Tafel zu schreiben.
     
    Bo hatte deshalb keine Angst, weil ihm früh aufgefallen war, daß sich niemand für ihn interessierte. Sein Vater nicht, seine Mutter nicht, sein großer Bruder nicht und die Lehrer nur, wenn er frech war. Er existierte nur, wenn er sich bemerkbar machte. Blieb er einfach ganz normal, ein Junge mit Spielen und Unsinn im Kopf, dann schien er seiner Umgebung derart unwichtig, daß man meinen konnte, es gäbe ihn nicht. Er beschloß, das Beste draus zu machen: Käme es zu einer brenzligen Situation, dann würde er nur einfach ganz normal sein, und schwupps wäre er weg. Er hatte die Wahl, sich bemerkbar zu machen und, wenn er wollte, wieder entmerkbar. Allerdings war es noch zu keiner Situation gekommen, die derart problematisch gewesen wäre, daß er es hätte ausprobieren müssen. Es war wie mit der atomaren Abschreckung. Man hat die Mittel, um sie nicht anzuwenden.
    Sein Vater, ein begeisterter NPD-Wähler, liebte außer Zarah Leander, Bos großem Bruder und zünftiger Marschmusik nur noch das Theater. Wie er Theater und Nationalsozialismus miteinander vereinbarte, war zwar schwer zu verstehen, denn seine Begeisterung ging durchaus über Gustaf Gründgens und Hans Albers hinaus, aber irgendwie schaffte er es, Joachim Ringelnatz, dem die Nazis ein Ehrenbegräbnis verweigert hatten, zu vergöttern, und gleichzeitig Juden, Kommunisten, Zigeuner und Homosexuelle in einen Topf zu werfen. In dem sie selbstverständlich bei lebendigem Leibe kochen sollten.
    Wenn Bo von seinem Vater bemerkt werden wollte, rezitierte er den »Fußballwahn« von Ringelnatz, den er fehlerlos auswendig konnte. Wollte er Ruhe haben, tat er einfach nichts.
    Vor drei Jahren hatte er die Bestätigung erhalten, daß sich nicht einmal das Schicksal für ihn interessierte. Sein großer Bruder Dietrich, der Augapfel des Vaters, weil er aussah, als sei er aus dem Lebensborn hervorgegangen - groß, blond, blauäugig, mit ausgeprägtem Kinn und Schultern wie ein Denkmal -, dieser Bruder hatte ein Luftgewehr, mit dem er versuchte, Spatzen zu erschießen. Glücklicherweise waren die Spatzen talentierter im Wegfliegen als Dietrich im Hinterherschießen. Er erwischte niemals einen. Hierüber wohl verärgert, zielte er an jenem Tag zur Abwechslung auf seinen kleinen Bruder, der gerade von der Bushaltestelle kam. Zuerst spürte Bo einen Luftzug, dann stolperte er und hörte den Schrei des neben ihm ausgestiegenen Nachbarjungen. Der hielt sich die Hand an die Wange, und mit seinen Tränen mischte sich Blut, das zwischen den Fingern hervorrann.
    Ein Blick, den Bo zum Dachfenster warf, zeigte ihm Dietrichs gerade verschwindendes Profil. Er wußte, daß dieser auf ihn gezielt hatte.
    Später, am Mittagstisch, sagte er: »Dietrich hat geschossen, ich hab’s gesehen«, und es war wie in diesen Träumen: Man spricht, aber niemand reagiert. Dietrich schaute in die Ferne, die Mutter mußte etwas in der Küche nachsehen, und der Vater sprach weiter über den Skandal, daß einfach in der Nachbarschaft herumgeschossen werde, und davon, wie er sich die Bestrafung des Täters, der bestimmt aus der Ausländersiedlung am Hang komme, vorstelle. Am nächsten Tag war das Luftgewehr verschwunden.
    Bis zum Tag nach der Konferenz mußte Giovanni gar nicht warten, schon am Abend sagte der Vater: »Du bist wieder aufgefallen.«
    Giovanni hielt den Blick auf die Tischdecke gesenkt und schwieg.
    »Dein gespartes Geld bleibt einen Monat in meiner Verwahrung«, entschied
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher