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Das Herz ist eine miese Gegend

Das Herz ist eine miese Gegend

Titel: Das Herz ist eine miese Gegend
Autoren: Thommie Bayer
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an diesem Auftragswerk für das Museum arbeitet, wo die geheimnisvolle schöne Frau ihn nach der Vernissage abpassen wird, um ihn von seiner Bedeutung zu überzeugen, an der er selbstverständlich zweifelt.
    Einen Nebentraum sozusagen stellte der sehnliche Wunsch dar, von Giovanni und Bo bemerkt und als Freund akzeptiert zu werden. Die beiden hatten einen eher oberflächlichen Kontakt zur Klasse, schienen einander selbst genug und strahlten eine unbewußte Fremdheit aus, die Ilse nicht nur imponierte, sondern ihm auch als Vorbild für sein eigenes Benehmen im jeweiligen Traum diente. Er fand diese Fremdheit vornehm. Einem derart wichtigen und berühmten Mann, wie er einer werden würde, jedenfalls angemessen.
    Trotz all seiner Bewunderung und versteckten Angebote beachteten ihn die beiden kaum. Sie mochten ihn zwar gern und bezogen ihn gelegentlich in einen ihrer improvisierten Sketche ein, aber nach der Schule nahmen sie ihn selten mit. Die private Welt ihrer Freundschaft war voll genug und brauchte keinen Sancho Pansa. Für einen dArtagnan reichte Ilses Statur nicht, und außerdem waren Giovanni und Bo über das Ritterspielen hinaus.
    Die Sketche gingen in etwa so: »Was stellt ihr euch unter dem Begriff Monolith vor?« fragte der Zeichenlehrer.
    Wie aus der Pistole geschossen sagte Bo: »Die französische Bezeichnung für ein Bett, in das nur einer paßt, also daß man darin nicht Stereo schlafen kann.«
    Bevor der Lehrer noch Zeit hatte zu reagieren, schaltete sich Giovanni mit dem Vorschlag ein, daß ein monolithes Kind zum Beispiel ein kleiner Buttermann sei, mit Schlitzaugen und ohne Grips.
    Wenn sich dann der Ärger des Lehrers über die beiden entlud, sahen sie auffordernd zu Ilse hinüber, der den Finger in die Luft streckte und, endlich aufgerufen, das Augenlid von Marilyn Mono zur Diskussion stellte.
    Wenn sie alle drei rausflogen, hatte der Sketch geklappt.
    Dann steckten sie vielleicht noch eine brennende Zigarette ins Schlüsselloch von Winklers Klassentür, rannten nach draußen und trampten in die Stadt, um den Rest des Vormittags am Fluß zu verbringen.
    Für Ilse waren das die schönsten Stunden seines Lebens.
    Die Schule war inzwischen eine Art Nebensache geworden. Es gab Wichtigeres. Aus unterschiedlichen Gründen hatten sie alle drei ähnlich schlechte Zensuren. Giovanni, weil er nur noch Bos Hausaufgaben machte, Bo, weil zwischen seinen Hausaufgaben und den übrigen schulischen Leistungen eine erstaunliche Diskrepanz herrschte, und Ilse, weil ein weltberühmter Maler Wichtigeres im Kopf hatte als Algebra, Gerundien oder Punische Kriege. Zum Beispiel, wo man endlich ein Aktmodell herbekam und, fast noch dringender, wo man es dann ungestört zeichnen konnte.
    Leider platzte Ilse in dem Moment in das Krankenhauszimmer, als Laura sich so aufs Bett gesetzt hatte, daß sie mit dem Rücken am Gitter lehnte. Ihre Füße hatte sie hochgezogen und die Arme um die Knie geschlungen. Aus ihren Hosenbeinen kamen Ringelsöckchen, in denen sie mit den Zehen wackelte, als wären ihre Füße kleine Tiere. Und diese Tiere krabbelten neben Giovannis Beinen auf dem Laken herum.
    »Stör ich?« fragte Ilse.
    »Und wie«, sagte Giovanni und hoffte, daß Laura das Kompliment verstünde.
    Sie steckte, noch sitzend, ihre Füße in die Turnschuhe und bückte sich, um sie zu binden.
    »Das ist Ilse«, sagte Giovanni und wurde sich erst der Albernheit dieses Namens wieder bewußt, als sie laut auflachte.
    »Was, Ilse?«
    »Das ist nur ein vorläufiger Name«, sagte Ilse und wurde rot.
    »Kommst du wieder?« fragte Giovanni, als Laura, anstatt seine Hand zu nehmen, unter die Decke griff und einen seiner Füße schüttelte.
    »Wenn du willst.« Sie ging zur Tür, wo sie noch grinsend »Tschüß, Ilse« sagte, bevor sie sie behutsam schloß.
    Um erst gar kein Schweigen aufkommen zu lassen und seinem Besuch einen Grund zu geben, der nicht mit der Hoffnung auf Freundschaft verwechselt werden konnte, sagte Ilse gleich: »Brauchst du ’n Fahrrad?«
    »Ich glaub schon.«
    »Ich hab eins übrig.«
    »Wie hat man denn ein Fahrrad übrig? Man hat eins oder hat keins, ich hab noch niemanden gesehen, der zwei Fahrräder hatte.«
    »Jetzt hast du einen gesehen.«
    »Was willst du dafür?«
    »Fünfzig Mark.«
    »Fünfzig Mark! Spinnst du?«
    »Es ist ein Wildrad.«
    »...?«
    »Naja, ist mir zugelaufen.«
    »Du klaust?«
    »Fünfzig Mark.«
    Giovanni hätte wütend sein müssen, war ihm doch selbst sein erstes Rad gestohlen worden.
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