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Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)

Titel: Das Herz ist ein einsamer Jäger (German Edition)
Autoren: Carson McCullers
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Wesen oder für irgendeine menschliche Idee opfern. Sie müssen einfach. Manche haben das eben so an sich… Der Text lautet: ›Jedermann suchet dich.‹ Deshalb vielleicht… vielleicht… Er sei ein Chinese, hatte der Kerl gesagt. Und ein Nigger und ein Makkaronifresser und ein Jude. Und wenn er fest genug dran glaubte, war’s vielleicht auch so. Jeder und jedes sei er, hatte er gesagt…
    Biff streckte die Arme aus und legte die nackten Füße übereinander. Im Morgenlicht war sein Gesicht älter – mit den geschlossenen, tiefliegenden Augen und mit den dichten, dunklen Stoppeln auf Wangen und Kinn. Allmählich entspannte sich sein Mund und wurde weich. Die grellgelben Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster und machten das Zimmer heiß und hell. Biff drehte sich müde um und legte die Hände über die Augen. Und er war niemand mehr – nur noch Bartholomew – der alte Biff, zwei Fäuste und eine fixe Zunge – Mister Brannon – ganz allein.
    3
     
    Mick wurde früh von der Sonne geweckt, obwohl sie gestern Abend mächtig spät nach Hause gekommen war. Es war zu heiß, um zum Frühstück Kaffee zu trinken, also trank sie Eiswasser, mit Sirup gesüßt, und aß Biskuits dazu. Erst lungerte sie ein bisschen in der Küche herum, dann ging sie auf die Veranda, um in ihrem Blättchen zu lesen. Sie hatte gedacht, Mister Singer würde vielleicht, wie meist am Sonntagvormittag, auf der Veranda sitzen und Zeitung lesen. Aber Mister Singer war nicht da, und später hörte sie von ihrem Papa, er sei gestern Abend sehr spät heimgekommen und habe Besuch mitgebracht.
    Sie wartete lange auf Mister Singer. Alle anderen Untermieter kamen herunter, bis auf ihn. Schließlich ging sie wieder in die Küche, nahm Ralph aus seinem Kinderstühlchen, zog ihm ein sauberes Kleid an und wischte ihm das Gesicht ab. Als dann Bubber aus der Sonntagsschule kam, war sie so weit, um mit den Kindern rauszugehen. Sie setzte Bubber zu Ralph in den Wagen, denn er war barfuß und das heiße Pflaster hätte ihm die Füße verbrannt. Sie zog den Wagen etwa acht Block weit, bis zu dem großen neuen Haus, das dort gebaut wurde. Die Leiter lehnte noch an der Dachkante. Sie nahm allen Mut zusammen und kletterte hinauf.
    »Pass auf Ralph auf«, rief sie Bubber zu. »Pass auf, dass ihm keine Mücke ins Auge fliegt.«
    Fünf Minuten später war Mick oben und richtete sich kerzengerade auf. Sie breitete die Arme aus wie Flügel. Hier oben stehen – das wollten sie alle. Ganz hoch oben. Aber nur wenige schafften es auch. Die meisten Kinder hatten Angst, denn wenn man den Halt verlor und über die Dachkante abrutschte, stürzte man in den Tod. Ringsum waren die Dächer der anderen Häuser und die grünen Wipfel der Bäume. Am anderen Ende der Stadt die Kirchtürme und die Fabrikschornsteine. Der Himmel war strahlend blau und die Luft glühend heiß. Und im Sonnenschein schienen alle Dinge unten auf der Erde blendend weiß oder tiefschwarz.
    Sie wollte singen. Alle Lieder, die sie kannte, wollten heraus aus ihrer Kehle, aber es kam kein Ton. Vorige Woche war ein großer Junge auf die höchste Stelle des Daches geklettert; der hatte einen Schrei ausgestoßen und dann eine Rede rausgebrüllt, die er in der Schule gelernt hatte: »Mitbürger! Freunde! Römer! Hört mich an!« Es war schon was, da ganz oben zu stehen. Das gab einem so ein wildes Gefühl. Man hätte am liebsten geschrien oder gesungen oder die Arme hochgeworfen, um wegzufliegen.
    Sie spürte, dass die Sohlen ihrer Tennisschuhe rutschten; sie ließ sich nieder und setzte sich breitbeinig auf den Dachfirst. Das Haus war fast fertig. Es sollte eines der höchsten Gebäude in der Gegend werden – zwei Stockwerke, sehr hohe Zimmer und das steilste Dach, das sie je an einem Haus gesehen hatte. Bald würde nichts mehr daran zu tun sein. Die Zimmerleute würden weggehen, und die Kinder würden sich einen anderen Spielplatz suchen müssen.
    Sie war allein. Kein Mensch weit und breit. Es war ganz still, und sie konnte eine Weile nachdenken. Sie holte das Zigarettenpäckchen, das sie gestern Abend gekauft hatte, aus der Hosentasche. Langsam zog sie den Rauch ein. Die Zigarette machte sie betrunken, ihr Kopf saß ganz schwer und schlaff auf ihren Schultern. Aber sie musste zu Ende rauchen.
    M. K. – Das würde sie überall draufschreiben lassen, wenn sie erst siebzehn Jahre alt und sehr berühmt war. Sie würde zu Hause in einem rotweißen Packard mit ihrem Monogramm an den Türen vorfahren. In Taschentücher
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