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Das Herz der Nacht

Das Herz der Nacht

Titel: Das Herz der Nacht
Autoren: Ulrike Schweikert
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Wenigstens lag kaum mehr Schnee auf den Wegen, so dass er ihr heute nicht die Schuhe und Strümpfe durchweichen würde.
    Resis Gedanken eilten durch die nächtliche Stadt voraus zu der Gasse, die noch immer nach dem aufgegebenen Chorfrauenkloster, der Himmelspforte, benannt war. Dort, in einem der Zinshäuser, bewohnte sie mit ihrem alten Großvater zwei Zimmer mit einer kleinen Küche unter dem Dach. Wie immer würde er noch wach sein und auf sie warten, und sie würde ihm eine schöne, heiße Schokolade wärmen. Und sich selbst auch, schwor sich Resi, deren Zähne aufeinanderschlugen. Sie dachte an die Glut im Ofen und die Wärme, die sie schon bald umgeben würde, als ein Schatten neben einem entlaubten Fliederbusch ihre Aufmerksamkeit erregte.
    Ohne es eigentlich zu wollen, blieb sie stehen und wandte sich dem Schemen zu. Was war das? Resi verließ den Weg und trat ein paar Schritte über den erstarrten Rasen. Der Schatten verdichtete sich zu einer Gestalt. Einer menschlichen Silhouette. Resi machte noch ein paar Schritte.
    Warum eigentlich? Ihr war kalt, und es interessierte sie gar nicht, wer in der Winternacht zu dieser Zeit hier noch unterwegs war. Sie wunderte sich über ihre Entscheidung, die gar nicht die ihre zu sein schien. Es fühlte sich an, als würden ihre Füße von einer fremden Macht gelenkt.
    So ein Unsinn!
    Resi kniff die Augen zusammen. Es musste ein Mann sein, so groß wie es war. Mehr konnte sie nicht erkennen. Ein weiter Umhang verhüllte die Gestalt, deren Gesicht unter der Krempe des ausladenden Huts im Dunkeln lag.
    Resi ging noch zwei Schritte weiter, obgleich sie eigentlich zum Weg zurückkehren wollte. Es schien plötzlich noch kälter zu werden, dennoch schlugen ihre Zähne nicht mehr aufeinander. Eine seltsame Starre bemächtigte sich ihrer Glieder. Sie blieb stehen. Ihre Arme hingen leblos herab, ihr Blick blieb starr auf die seltsame Gestalt gerichtet, die nun kaum drei Schritte entfernt vor ihr stand. Sie hatte sich bisher noch nicht bewegt. Nun jedoch schälte sich eine bleiche Hand aus dem Mantelstoff. Schlanke Finger mit langen, spitzen Nägeln krümmten sich.
    »Komm noch ein wenig näher, mein Kind«, flüsterte ein kalter Windhauch in ihr Ohr. »Hierher zu mir!«
    Das war das Letzte, was Resi wollte. Es drängte sie davonzulaufen, nach Hause zu ihrem Großvater, in die Geborgenheit ihrer kleinen Dachwohnung, zu einer tröstenden Tasse Schokolade, und dennoch folgte sie dem Drängen der fremden Gestalt, bis sie vor ihr stand. Die Wolken, die der Wind über den Himmel jagte, hatten sich verdichtet, dennoch schied sich nun ein Gesicht vom Schatten der Hutkrempe. Bleich war es, ja, fast durchsichtig, als würde es von innen her leuchten. Noch unheimlicher jedoch waren die Augen, die in einem tiefen Rot zu glühen schienen. Aber es ging keine Wärme von ihnen aus. Resi konnte den Ausdruck nicht deuten. Sie wusste nur, dass zu Recht Todesangst ihre Brust umklammerte und ihr den Atem nahm.
    Langsam hob die Gestalt die Hand. Eisig legte sie sich auf ihre Wange und strich ihr bis zum Kinn. Einer der spitzen Fingernägel fuhr die Kontur ihrer Lippe nach. Er war so scharf, dass ein Blutstropfen hervorquoll und warm über ihre Haut herabperlte.
    »Sehr schön«, sagte der eisige Windhauch. Die dünnen, fast farblosen Lippen öffneten sich und ließen weiß blitzende Zähne sehen. Es war kein Lächeln, das Resis Herz hätte beruhigen können. Wenn überhaupt möglich, vertiefte es den Schrecken noch.
    Vielleicht war es dieser Augenblick, der Resi die Gewissheit offenbarte, dass sie in dieser Nacht nicht nach Hause gehen würde. Nein, dass sie niemals wieder heimkehren würde. Armer Großvater!
    Warum versuchte sie nicht, vor diesem unheiligen Wesen zu fliehen? Weil sie wusste, dass sie keine Chance hatte, ihm zu entkommen? Weil es sie mit seinem Blick in Fesseln schlug, fester, als jedes Seil es hätte tun können? Es war ihr, als könne sie das Band spüren, das sich um ihr Herz zusammenzog, das unter seinen letzten, verzweifelten Schlägen schmerzte.
    »Ich habe auf dich gewartet«, sagte das Wesen.
    Was war es? Ein Mensch ganz sicher nicht. Was dann? Ein Dämon der Hölle, der für Satan die Seelen der Menschen raubte und dessen Aufgabe es war, sie im Fegefeuer zu martern?
    Nein, nicht im Fegefeuer, korrigierte Resi ihren Gedanken. Das Fegefeuer war nur eine vorübergehende Qual, um seine Sünden, die man hier auf der Erde begangen hatte, zu büßen, doch dann folgte die Erlösung.
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