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Das Herz der 6. Armee

Das Herz der 6. Armee

Titel: Das Herz der 6. Armee
Autoren: Heinz G. Konsalik
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schleiften einen dritten zwischen sich. Er hing mit den Armen an ihren Schultern und versuchte, Schritt zu halten. Aber sie trugen ihn mehr, so gut sie es noch mit ihren schwachen Kräften konnten.
    »Laßt mich liegen …«, stammelte Pastor Sanders, als die Kolonne stockte. »Bitte, laßt mich liegen …«
    »Du sollst Gott nicht herausfordern, gerade du nicht.« Pfarrer Webern wischte das Gesicht des Pastors mit Schnee ab. Dr. Körner, der zweite Mann, der den Pastor aufrecht hielt, japste nach Luft. Er schob den Arm Sanders dichter um seinen Hals und biß die Zähne zusammen, als die Kolonne sich weiterbewegte.
    Durch den Schnee, durch den Sturm, in die Endlosigkeit hinein … und die Fußstapfen der Tausende verwehten von einer Minute zur anderen, ihre Körper lösten sich auf hinter der Wand aus wirbelnden Flocken und heulendem Nebel … irgendwo war ein Zelt, eine Hütte, eine Baracke, irgendwo war ein Bett, eine Strohschütte, ein trockenes Plätzchen, irgendwo war ein Löffel heiße Suppe, die nach Kohl schmeckte … heiße Suppe … heiße Suppe … Irgendwo –
    Hinter Schneewänden, hinter Sturm, hinter erstarrenden Leibern, hinter Gebeten und Flüchen, hinter dem treibenden Dawai – dawai …
    Irgendwo –
    Nach zwei Stunden trugen sie Pastor Sanders. Dr. Körner faßte ihn unter den Armen, Pfarrer Webern trug die Beine. Sie gingen im gleichen Schritt, damit der Körper nicht pendelte. Ab und zu beugte sich Pfarrer Webern vor und schüttelte den Körper. In der eingeknickten Höhlung des Bauches sammelte sich der Schnee zu einem kleinen Hügel.
    Irgendwo war ein Bett … ein Haufen Stroh … oder nackte trockene Erde …
    Nicht weit von ihnen ging Knösel. Die letzten Worte Kaljonins hatten nicht gewirkt. Er wurde in die Reihe der anderen gestoßen, er war einer der 95.000. Aber er grollte nicht darüber … er lebte, er marschierte hinaus aus der Stadt, von der er geglaubt hatte, daß er sie nie mehr verlassen würde. Er war gesund, er hatte sogar Kraft, und er hatte seine Pfeife noch. Wenn sie erst wieder brannte, und wenn es Heu war, würde das Leben weitergehen …
    Niemand weiß, was aus ihnen geworden ist … aus Dr. Körner und Olga Pannarewskaja, aus Pfarrer Webern und Pastor Sanders, aus dem Gefreiten Hans Schmidtke, den man Knösel nannte, und aus Vera Kaljonina. Nur Dr. Sukow tauchte wieder auf … er wurde Chefchirurg in Charkow.
    Am 2. Februar 1943, nachdem auch der Nordteil der Stadt kapituliert hatte, wölbte sich ein strahlend blauer Himmel über Stalingrad, kleine, weiße Wölkchen zogen dahin, das Thermometer zeigte 31 Grad minus … nur aus den Trümmern stieg Nebel, vereinzelt mit roten Flecken, denn noch immer brannte es in den Ruinen der zerstörten Stadt.
    Und noch immer zogen die grauen Kolonnen hinaus in die Steppe, die Letzten von 22 Divisionen mit 364.000 Mann.
    Die deutschen Zeitungen bekamen an diesem Tage vom Reichspressechef folgenden Befehl:
    »… so sehr auch die Zeitungen in diesen Tagen eine heroische Haltung zeigen werden, so sehr ist es erwünscht, keine Worte der Trauer anzustimmen, sondern aus dem Opfer der Männer von Stalingrad ein Heldenepos zu machen – jedoch ohne Phrasen und Sentimentalitäten, sondern in männlicher, harter und nationalsozialistischer Sprache …«
    ›Das Herz der 6. Armee‹ hatte aufgehört zu schlagen. Hüben und drüben atmete man auf. Würde es eine Lehre für kommende Generationen sein …?
    IST ES EINE LEHRE?
    Die Antwort darauf werden wir geben … oder unsere Kinder … oder unsere Kindeskinder …
    Es ist zu befürchten, daß sie falsch sein wird … so wie sie immer falsch gewesen ist, wenn man beginnt, elendes Krepieren in einem Schneeloch mit Heldentod zu verwechseln.
    Es gibt keinen Heldentod … es gibt nur ein erbärmliches Sterben. Die Männer von Stalingrad wissen es … auch Pfarrer Webern und Pastor Sanders.
    Man könnte sie fragen.
    Aber wo sind sie …?
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