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Das Haus in den Wolken

Titel: Das Haus in den Wolken
Autoren: Judith Lennox
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wo ihm doch jeder Blick in den Spiegel sagte, dass er immer noch ein ausgesprochen ansehnlicher Mann war.
    Aber sein Herz. Er streckte sich auf dem Hotelbett aus und legte eine Hand auf seine Brust. Er dachte an John Temple, der im besten Mannesalter gestorben war, als er das ganze Leben noch vor sich gehabt hatte. Er selbst hatte so viel zu verlieren, hatte noch so viel zu erwarten. Er wollte seine Enkel aufwachsen sehen. Er wollte seine Kinder den Krieg überleben sehen. Er wollte morgens beim Erwachen Isabel neben sich sehen.
    Er war nicht unverwüstlich, wie er so lange geglaubt hatte. Er hatte eine Warnung erhalten, und sie erschreckte ihn. Ach, und der Schmerz – viel schlimmer als die Enge in seiner Brust –, der Gedanke, für immer Abschied nehmen zu müssen von denen, die man liebte.
    Er schlief ein. Im Traum war er wieder in Lynton. Er ging den steilen, gewundenen Fußweg vom Ort zum Hafen hinunter. Er hatte ein Stechen in der Brust, und er ging schnell, weil er wusste, dass er spät dran war.
    An der Brücke hielt er an, um zu verschnaufen. Es war Flut, und die See ergoss sich wild sprudelnd in den Kanal. Dort, wo sie mit dem Fluss zusammentraf, vermischten sich Salzwasser und Süßwasser in schäumenden Strudeln und Kaskaden, die glitzernde Tropfen in die Luft warfen. Als er aufblickte, sah er sie am Fuß des trutzigen alten Turms stehen. Sie trug die rote Jacke, die sich leuchtend vom Sturmgrau des Himmels abhob. Er lief auf sie zu, er wusste, dass er sie erreichen musste, bevor der Umschwung kam. Doch als er sich ihr näherte, gesellten sich zu dem Gefühl der Dringlichkeit Sehnsucht und Freude. Goldenes Licht übergoss den Hafen. Als sie sich umarmten, verschmolzen sie miteinander, untrennbar, wie der Fluss und die See.
    Richard erwachte. Er blieb still liegen, in Frieden, ruhig in der verweilenden Erinnerung an den Traum. Der Schmerz unter seinen Rippen war vergangen. Er stand auf und ging ins Bad. Er wusch sich das Gesicht, putzte sich die Zähne und bürstete sich das Haar. Isabel, dachte er, seine erste und einzige Liebe. So oft verschlossen und rätselhaft, doch das erhöhte nur die Faszination. Heute Abend hatte sie es abgelehnt, zu ihm zurückzukehren. Aber er würde nicht aufgeben. Die Finboroughs gaben niemals auf. Die Finboroughs kämpften, sie trotzten allen Widerständen. Allen Widerständen zu trotzen, das war immer schon seine Stärke gewesen.

    Isabel erinnerte sich an Richards letzte Worte, bevor sie ins Hotel gegangen war. »Bereust du es?«, hatte er sie gefragt. Sie hatte gewusst, dass er von ihrer Ehe gesprochen hatte.
    Â»Nein, überhaupt nicht«, hatte sie geantwortet. »Es war ein Abenteuer. Das größte Abenteuer meines Lebens.«
    Er hatte sie noch einmal gebeten, mit ihm nach Hause zu kommen. Und sie hatte wieder Nein gesagt. Er wollte wissen, warum. »Weil es zu spät ist«, sagte sie. »Weil ich zu müde bin. Weil wir wieder streiten würden und ich nicht mehr die Kraft dazu habe. Weil ich zur Ruhe gekommen bin, Richard. Weil ich glücklich bin, so wie es ist.«
    In ihrem Zimmer begann sie zu packen. Während sie Kleidungsstücke faltete und Strümpfe zusammenlegte, gestand sie sich ein, dass sie gelogen hatte. Sie war nicht glücklich . Sie war seit Jahren nicht mehr glücklich. Natürlich gab es flüchtige Momente des Glücks, die gab es immer. Aber zur Ruhe gekommen zu sein, war nicht dasselbe, wie glücklich zu sein.
    Ihr Leben lang hatte sie sich als Außenseiterin gefühlt. In Lynton war sie von Anfang an geächtet worden. In ihrer Ehe mit Richard hatte sie sich aus dem Kreis seiner reichen und privilegierten Freunde ausgeschlossen gefühlt. Aber vielleicht hatte sie zu diesem Ausschluss das Ihre beigesteuert, vielleicht hatte sie sich manchmal aus eigenem Belieben abseits gestellt. Es bestand keine Notwendigkeit mehr, jetzt noch in Porthglas zu bleiben. Die Luftangriffe waren vorbei, und ihre drei Jungen waren nach London zurückgekehrt. Sie hätte nach Hause fahren können, aber sie hatte es nicht getan. Sie war hiergeblieben, in ihrer Zitadelle verschanzt.
    Sie setzte sich aufs Bett. Warum begibst du dich in diese Isolation?, fragte sie sich. Ist deine Angst vor der Liebe so groß? Ist deine Angst vor dem, was sie vielleicht aus dir macht, so groß? Ist deine Angst davor, sie wieder zu verlieren, so groß, dass du dich ihr lieber
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