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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder
Autoren: Serena Mackesy
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durch unbekannte Gegenden hatte sie abgelenkt, aber jetzt, da sie in wenigen Minuten ihr erstes Bewerbungsgespräch seit Jahren führen wird, fühlt sie sich zittrig, und ihr ist ein klein wenig flau. Heute Vormittag hatte sie sich noch keine großen Sorgen gemacht; schließlich war sie es gewohnt, den Mächtigen ihre Dienste anzubieten, ohne auch nur eine Sekunde zu zweifeln. Aber seit sie Kieran geheiratet hat, hat sie eine Menge ihrer früheren Zuversicht eingebüßt und kommt sich noch immer wie ein Schwimmer vor, der in eine Wasserströmung geraten ist, von den Umständen ohnmächtig hin und her getrieben wird, ohne Einfluss auf den Ausgang der Sache nehmen zu können. Deshalb hält sie an diesen Selbstgesprächen fest. Würde sie zugeben, dass niemand sie hören kann, wäre das ein Eingeständnis ihrer Einsamkeit.
    »Komm schon«, sagt sie laut, weil sie gerade überlegt, ob sie den Rückwärtsgang einlegen und direkt nach London zurückfahren soll, ohne diesen Gordhavo zu treffen, wer immer das auch sein mag. Es ist zehn Jahre her, seit sie sich das letzte Mal offiziell für eine Stelle bewarb, und der Gedanke an das bevorstehende Vorstellungsgespräch bringt sie leicht ins Schwitzen. Wer wird schon ein Haus wie dieses einer erschöpften, niedergeschlagenen alleinerziehenden Mutter überlassen, die seit ihrer Schwangerschaft nicht mehr berufstätig war? Was hat das für einen Sinn? Das ist nur wieder ein verplemperter Tag, vergeudetes Benzin, verschwendeter Mut …
    »Komm schon, Bridget«, sagt sie wieder zu sich selbst, dieses Mal in schärferem Tonfall. Sie zwingt sich, die Hand an den Türöffner ihres Autos zu legen.
    Der Weg ist schon ein wenig rutschig. Dagegen werde ich etwas unternehmen müssen, denkt sie. Darauf würde Yasmin gewiss ausrutschen, sich den Kopf aufschlagen. Und mit dieser Schaukel da. Und die Fenstersimse im oberen Stockwerk scheinen gefährlich niedrig zu sein. Und dieser Teich: Mein Gott, warum habe ich sie nicht den Schwimmkurs machen lassen, als ich die Gelegenheit dazu hatte? Ich bin eine dermaßen schlechte Mutter! Die allerschlechteste. Es ist unmöglich. Ich kann doch kein Kind hierher bringen. Das ist ja die reinste Todesfalle.
    Sie tritt über die Türschwelle und steht in der Eingangshalle. Drinnen liegen die gleichen Steinplatten, nach Jahrhunderten von Schmutz und Schrubben mit grauer Patina überzogen. Buttermilchweiß getünchte Wände, deren Putz vom Alter so lose und abgeblättert ist, dass ein Teil davon nur von den darüber gemalten Farbschichten festgehalten wird, führen zu einer mit schwarzen Nieten beschlagenen Gartentür. Ein Schlüsselbund, der gut und gern als Angriffswaffe genutzt werden könnte, liegt auf einer Konsole. Reihen von robusten eisernen Garderobenhaken, die im Shaker-Stil auf Brettern befestigt sind, säumen die Wände. Sie sind allesamt leer.
    Niedrige, breite Türen – Türen für kleine Menschen in ausladenden Kleidern – führen von der Eingangshalle rechts in ein Speisezimmer, wo ein unbehandelter, geschrubbter Eichentisch zwischen – sie zählt sie ab – achtzehn modernen Polsterstühlen steht, die sie aus dem Ikea-Katalog wiedererkennt. Der nächste Ikea ist in Bristol, überlegt sie: Ich vermute, die Fahrt lohnt sich, wenn man achtzehn Stühle auf einmal kauft.
    Links ein Salon: weiße Wände, Brokatvorhänge und drei Sofas, jedes groß genug, um darauf eine Orgie zu feiern, stehen um einen Couchtisch, der so groß ist wie in Teilen anderer Länder ein ganzes Haus. Ein offener Kamin, in den ganze Baumstämme passen, klafft dunkel und kalt unter gewaltigen Balken. Große Bilder eines düster dreinblickenden Ahnenpaars hängen in den Nischen zu beiden Seiten des Kamins. Irgendwo in der Ferne ist das Ticken einer Uhr zu hören.
    Bridget war noch nie in so großen Privaträumen, ohne sich zuvor eine Eintrittskarte gekauft zu haben. Jetzt begreift sie, warum wer auch immer die Tür offen gelassen hat: Wenn überhaupt, dann ging es darum, warme Luft von draußen ins Haus zu lassen, obwohl es November ist.
    Sie wirft einen Blick auf ihre Uhr. Noch immer zehn Minuten zu früh.
    »Hallo?«, ruft sie zögernd.
    Pfoten tapsen über die schwarz verschmutzten Dielenbretter, und schon taucht ein freundlicher Cockerspaniel am anderen Ende des Speisezimmers auf und kommt auf sie zu. Erfreut – seltsamerweise erleichtert –, hier ein Lebewesen zu sehen, geht sie in die Hocke, krault ihn hinter den Ohren und wird mit einer eleganten Krümmung des
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