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Das Haus der verlorenen Kinder

Titel: Das Haus der verlorenen Kinder
Autoren: Serena Mackesy
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Rückens und einem begeisterten Ansturm seiner pinkfarbenen Zunge belohnt.
    »Hallo, alter Knabe!«, sagt sie lachend und hält seinen Kopf ein Stück von ihrem Mund entfernt. »Wo ist denn dein Herrchen? He? Wo sind die anderen?«
    Der Hund blickt über ihre Schultern in den Salon, entzieht sich ihrem Griff und rennt plötzlich zielbewusst in die Richtung, aus der er gekommen ist. Bridget folgt ihm. Hier sind die Vorhänge aus dickem blauem Samt, hängen von der hohen Decke bis über die Fenstersitze, die in die fast einen Meter dicken Mauern eingelassen sind. Die Fenster selbst beginnen etwa auf der Höhe von einem Meter achtzig: zu hoch, als dass ein Mensch im Stehen, geschweige denn im Sitzen, hinausschauen könnte. Das muss einmal eine Art Geschäfts-raum gewesen sein, vermutet sie: ein Ort, an dem die in Kittel gekleideten Pächter darauf warteten, in das kleinere Empfangszimmer gerufen zu werden – holzgetäfelt, mit Teppichen ausgelegt, gemütlich, weniger bombastisch als die Räume, die sie bis jetzt gesehen hat –, in das sie durch die Tür zu ihrer Rechten in einem Seitenflügel des u-förmigen Gebäudes blickt. Der Hund trottet durch die Tür weiter voraus, und sie folgt ihm. Eine Küche, fast wie eine Betriebsküche. Ein Edelstahlherd mit acht Gasflammen ist in den ehemaligen Kamin eingebaut, ein Warmhalteschrank, eine Doppelspüle, amerikanischer Kühl- und Gefrierschrank. Das alles passt überhaupt nicht zu den alten Schränken und Abtropfbrettern aus Kiefernholz und dem winzigen, von Stein umrahmten Fenster, das auf einen nassen Rasen blickt. Wieder Steinplatten auf dem Boden. Sie kann spüren, wie die winterliche Kälte durch ihre Schuhsohlen aufsteigt.
    Am anderen Ende der Küche befindet sich eine weitere Tür; sie ist geschlossen.
    »Hallo?«, ruft sie noch einmal.
    Wieder keine Antwort. Der Hund macht neben der Tür Sitz – kauert sich nieder, um seinen Rumpf nicht auf die Stein-platten zu legen – und mustert sie mit großen, traurigen Augen. Hebt eine Vorderpfote und streicht damit über die Holztür. Als sie den Riegel anhebt, bemerkt sie, dass sie mit einem Schloss versehen ist. Sie streckt den Kopf in einen gefliesten Raum, in dem weitere moderne Geräte stehen: eine Waschmaschine und ein Trockner, ein Staubsauger und eine Bügelmaschine; einziehbare Wäscheleinen sind über ihrem Kopf gespannt. Zu ihrer Rechten ein weiterer Raum – einst ein Vorraum zu dem Empfangszimmer, wie sie aufgrund der Holztäfelung vermutet. Ein Gerümpel aus kaputten Möbeln, aufeinandergestapelten Lampenschirmen, Kartons und Papier. Ein toter Raum; eines jener Zimmer, wie man sie nur in den ärmlichen Gegenden einer städtischen Wohnsiedlung findet, wenn die Bewohner auf Anweisung des Sozialamts abtransportiert wurden. Alte Zeitschriften. Fotoalben. Stühle ohne Beine. Beine ohne Sitzflächen. Sachen, die scharfkantig sind, Sachen, die schwer und Sachen, die mit dem Staub von Jahrzehnten bedeckt sind.
    Das Bild von Yasmin taucht vor ihrem inneren Auge auf. Das hier muss ich verschlossen halten, denkt sie. Und wenn es kein Schloss gibt, muss ich einen Riegel oberhalb ihrer Reichweite anbringen. Hier gibt es Sachen, die für sie lebensgefährlich sein könnten.
    Überall gibt es Dinge, die sie umbringen könnten. Für Sechsjährige ist die Welt voller tödlicher Gefahren. Himmelherrgott, sie könnte an Brixton Hill unter einen Geländewagen geraten. In ihrer Schule könnte Feuer ausbrechen. Sie könnte alle möglichen Chemikalien in die Finger kriegen, die sie in ihrer beengten kleinen Küche unter der Spüle aufbewahrt, sie könnte kopfüber von einem Klettergerüst stürzen, auf offener Straße entführt werden. Sie ist so kostbar und verletzlich. War ich schon vor Kieran so? Habe ich mir den ganzen Tag ständig Sorgen gemacht, so wie jetzt? Habe ich deshalb diesen schlimmen Fehler begangen? Weil ich dachte, er sei stark, weil ich dachte, er würde mich beschützen?
    Der Hund drückt sich an ihr vorbei, zeigt ihr einen Weg an den Tischen, Schränken und leeren Steinsockeln für Statuen oder Säulen vorbei auf eine schmale Tür zu, die einen Spalt offen steht. Sie kann dahinter eine ebenso schmale Treppe sehen; steile Stufen führen zwischen den von der Feuchtigkeit fleckigen Wänden eines Anbaus hinauf. Und endlich hört sie, dass sich oben etwas bewegt: ein Rumsen, als würde etwas Schweres über den Boden geschleift. Eine Leiche?, fragt sie sich. Es wäre doch möglich … das könnte alles nur ein Vorwand
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