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Das Haus der toten Mädchen

Das Haus der toten Mädchen

Titel: Das Haus der toten Mädchen
Autoren: Anne Stuart
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pflegten den Katalog um die Frage zu ergänzen, welches College man besucht habe, und er hatte sich für alles eine Antwort zurechtgelegt. Aber diesmal hatten ihm die Leute, die sein Geld nahmen, nicht einmal ins Gesicht geschaut, und er hatte das altmodische Geschäft mit seinem Sixpack Coke und einem Stück Cabot-Käse verlassen, ohne auch nur die geringste Aufmerksamkeit erweckt zu haben. Fast war er enttäuscht.
    Die Frau vom Maklerbüro hatte bei der Schlüsselübergabe nervös gewirkt, und es war ihm so vorgekommen, als sei sie über diese Vermietung nicht gerade glücklich. Scheiß drauf: Er wusste genau, was er tat, und es war ihm völlig egal, ob das Haus sauber war, das Wasser lief oder im Kamin Eichhörnchen wohnten. Er wollte nur hinein und die Türen hinter sich abschließen, um sich endlich wieder sicher zu fühlen.
    Diese Schwäche war ihm lästig und sehr unangenehm, aber selbst unter Aufbietung all seiner Willenskraft konnte er sie nicht überwinden. Immer wenn er an einen neuen Ort kam, überwältigte ihn diese Unsicherheit. Vielleicht würde er sie eines Tages besiegen, aber vorerst blieb ihm nichts anderes übrig, als die Türen und Fenster zu schließen und die Welt auszusperren. Dann fühlte er sich besser.
    Er brauchte nicht lang, um sich einzugewöhnen. Der Weg zum Whitten-Haus war ausgefahren und überwuchert genug, um Neugierige abzuschrecken. Außerdem wirkte das Haus verlassen. Er klappte die Fensterläden auf, öffnete die Fenster und ließ die frische Bergluft herein. Wenn man den Hahn aufdrehte, kam tatsächlich Wasser heraus, und mit den Mäusespuren an und in den Kissen der Wohnzimmercouch konnte er leben. Er fegte den Boden, wischte einen staubigen Holztisch ab und baute darauf seinen Laptop auf, bevor er sich um seine Koffer und die Einkäufe kümmerte. Zumindest hatte er in diesen zwanzig Jahren gelernt, klare Prioritäten zu setzen.
    Er legte die Coke und den Käse in den warmen Kühlschrank, steckte den Stecker in die Steckdose und ging auf die vordere Veranda. Die Stühle waren in einer Ecke verstaut, also setzte er sich auf die Brüstung und schaute auf den unkrautdurchsetzten Rasen und den See: das Letzte, was er von Colby, Vermont, gesehen hatte.
    Er warf einen Blick auf die Stonegate-Farm am anderen Ende der Bucht. Sie sah gepflegt aus: Die neuen Eigentümer hatten offenbar eine Menge Geld und Energie hineingesteckt. Jetzt musste er noch einen Weg finden, dort hineinzugelangen, ohne Verdacht zu erregen.
    Das wäre ihm erheblich leichter gefallen, wenn er geahnt hätte, wonach er eigentlich suchte. Er hatte schon damals kaum Erinnerungen an diese Nacht besessen, und die verstrichenen zwanzig Jahre hatten es nicht besser gemacht.
    Aber er war oben bei diesem Haus gewesen, so viel wusste er. Hinten in dem abgesperrten Flügel, in dem einst das Krankenhaus von Colby untergebracht war. Und er war nicht allein gewesen.
    Vielleicht hatte er Lorelei dort zum letzten Mal lebend gesehen. Oder er hatte ihr – falls er doch ihr Mörder war – dort die Kehle durchgeschnitten und sie dann zum Wasser hinuntergetragen.
    Wenn dem so war, mussten noch irgendwo Blutspuren sein. Blut oder irgendetwas anderes, das ihm verriet, was sich damals abgespielt hatte. Vielleicht würde schon das Betreten des Trakts seinem widerspenstigen Gedächtnis auf die Sprünge helfen.
    Wieder in Colby zu sein hatte bisher absolut nichts bewirkt – außer ihn in Unruhe zu versetzen. Falls sich ihm keine Gelegenheit bieten sollte, sich in das alte Gasthaus zu schleichen, musste er versuchen, sich hineinzuschmeicheln. Und wenn alle Stricke rissen, würde er eben einbrechen.
    Wenn das nichts brachte, würde er sich den ganzen Ort vorknöpfen. Wie viele Leute von damals lebten noch hier? Wie viele erinnerten sich an die Morde?
    Früher oder später würde er die Antworten finden, nach denen er suchte. Mochten die guten Leute von Colby auch glauben, die Sache sei aus und vorbei, das Kapitel abgeschlossen.
    Es war nicht abgeschlossen, und er wusste das besser als jeder andere. Wenn er diesen Ort verließ, würde er Bescheid wissen. Erst dann war es zu Ende. Alle Fragen würden beantwortet sein, die Toten begraben, die Geister zur Ruhe gekommen.
    Wenn er ging, würde er die Wahrheit kennen. Er würde wissen, wer Alice Calderwood, Lorelei Johnson und Valette King getötet hatte. Er würde wissen, ob
er
es war.
    Es war früher Abend, als er die Frau bemerkte, die über die Wiese neben seinem Haus kam, und einen
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