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Das Haus der toten Mädchen

Das Haus der toten Mädchen

Titel: Das Haus der toten Mädchen
Autoren: Anne Stuart
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Augenblick lang befürchtete er, Gespenster zu sehen. Er hatte den restlichen Nachmittag damit verbracht, das alte Gebäude gründlich zu lüften, mäusezerfressene Kissen und alte Zeitungen in den Müll zu werfen und den Spinnweben zu Leibe zu rücken. Er hatte zwei Stühle gefunden, an denen der Zahn der Zeit noch nicht zu sehr genagt hatte, und sie auf die vordere Veranda gestellt. Auf einem saß er nun, die Füße auf die Brüstung gelegt, eine Dose Coke in der Hand, als die Frau aus dem Wald auftauchte.
    Ihm war nicht ganz wohl bei ihrem Anblick. Einerseits wollte er auf keinen Fall, dass hier unangekündigt irgendwelche Leute erschienen, schon gar Frauen wie diese. Sie war auf ihre rosig-goldige Weise ganz hübsch und trug so ein blumiges Schlabberding, das für seinen Geschmack zu lang war und zu locker saß. Fehlten nur noch ein riesiger Hut und weiße Handschuhe, und sie hätte zu einer verdammten Gartenparty gehören können.
    Nur dass sie statt einer Teetasse ein Tablett voller Objekte trug, die verdächtig nach Muffins ausschauten. Das gab den Ausschlag: Zwar war er ein Mann, der grundsätzlich nichts und niemanden brauchte, aber er hatte seine Prioritäten, und Essen stand ganz oben auf der Liste. Also würde er sie nicht gleich wieder vertreiben.
    Außerdem kam sie vom alten Gasthaus. Vielleicht würde es ganz einfach werden, sich dort Zugang zu verschaffen. Vielleicht würden ihm die ersehnten Antworten wie diese Muffins auf einem Tablett bis vor die Haustür gebracht.
    Griffin wusste sehr wohl, dass er zur Begrüßung aufstehen sollte, statt sich weiter auf dem Stuhl herumzulümmeln. Er hatte keine strenge Mutter gehabt, die ihm hätte Manieren beibringen können; er war allein mit seinem Vater gewesen und mit ihm von Ort zu Ort gezogen, bis er fünfzehn war und sein Vater starb. Seitdem war er allein, aber er wusste trotzdem, was sich gehörte. Dennoch verharrte er regungslos, während sie die kleine Treppe zur Veranda hinaufstieg.
    Er mochte keine hübschen Frauen, er mochte Frauen mit Charakter. Elegant und clever sollten sie sein – wie seine ehemalige Verlobte Annelise. Kein Schnickschnack, keine Gefühlsduselei. Diese hier schien einem Wohn- und Gartenmagazin entsprungen zu sein, sie duftete bestimmt nach Blumen und frischem Brot, süß und weich und warm. Er blickte sie abschätzig an.
    „Ich bin Sophie Davis“, sagte sie mit einer Stimme, die zum Kleid passte: leicht, melodisch, unangenehm bezaubernd. „Meine Familie führt das alte Gasthaus – ich fürchte, wir sind Ihre einzigen Nachbarn, bis im Herbst die ersten Gäste kommen. Ich habe Ihnen Muffins mitgebracht, um Sie in Colby willkommen zu heißen.“
    Er nahm ihr den Teller ab und stellte ihn vor sich auf die Brüstung. Er musste sich jetzt schnell etwas Nettes einfallen lassen, aber irgendetwas hielt ihn zurück. Vielleicht war es die selbstzufriedene Normalität der jungen Frau, die da vor ihm stand. Sie gehörte zu einer anderen Welt als er mit seiner lebenslangen Entwurzelung: Sie lebte in einem Land voller gepflegter Häuschen und stabiler Familien. Er war groß und struppig und verschwitzt vom Hausputz. Sie war kleiner und irritierend makellos.
    Er wollte ihr auch nicht den Eindruck vermitteln, als könne sie jederzeit hier hereinplatzen. Er schätzte seine Abgeschiedenheit und konnte vor allem jetzt keine übermäßige Neugier bezüglich seiner Person und seiner Absichten gebrauchen.
    „Danke.“ Er bemerkte, dass er alles andere als dankbar geklungen hatte, und wies mit dem Kopf in Richtung des alten Niles-Anwesens. „Scheint mir ’ne seltsame Zeit zu sein, um ein Gasthaus aufzumachen.“
    „Es hat uns viel Kraft gekostet, das so schnell zu schaffen. Das Haus hat jahrelang leer gestanden, und da dauert es eine Weile, bis alles wieder in Schuss ist.“
    Also hat hier jahrelang niemand gewohnt, dachte er. Es hatte Dutzende von Gelegenheiten gegeben, zurückzukehren und die Lösung des Rätsels zu suchen. Aber er war zu sehr mit dem Versuch beschäftigt gewesen, das alles hinter sich zu lassen.
    „Außerdem“, fügte sie hinzu, „ist der Herbst hier die schönste Jahreszeit. Es kommen noch mehr Leute als im Sommer oder zum Wintersport. Für September und die erste Oktoberhälfte sind wir schon komplett ausgebucht.“
    „Wann wollten Sie noch mal öffnen?“
    „In zwei Wochen.“
    Zwei Wochen. Zwei Wochen, um in das alte Haus zu gelangen, bevor die Touristenhorden einfielen. Zwei Wochen, um herauszufinden, ob es hier
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