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Das Haus der Madame Rose

Das Haus der Madame Rose

Titel: Das Haus der Madame Rose
Autoren: Tatiana de Rosnay
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ganz dunkel. Was erzählte ihr die Großmutter wohl gerade? Was machte sie für ein Gesicht, zog sie vielleicht eine lustige Grimasse? Ich lachte leise und legte die Socke weg.
    Plötzlich stieß Maman Odette ein Röcheln aus, ein fürchterliches pfeifendes Geräusch, als wäre ihr tief im Hals ein Bissen stecken geblieben. Mit Schrecken sah ich, wie sie langsam zu Violette hinüberglitt, die sich nicht gerührt hatte – wie eine kleine versteinerte Statue. Ich stürzte zu Maman Odette, so schnell ich konnte, packte ihren Arm, und als sie mir ihr Gesicht zuwandte, wurde ich fast ohnmächtig vor Grauen. Es war nicht wiederzuerkennen – jegliche Farbe war daraus gewichen, ihre Augen waren zwei flackernde weiße Kugeln. Ihr Mund stand offen, von ihrer Unterlippe hing ein glitzernder Speichelfaden, wieder röchelte sie, noch ein Mal, und hob ihre schlaffen Hände hilflos zur Brust. Dann sackte sie zu meinen Füßen zusammen. Fassungslos stand ich da und konnte mich nicht rühren. Ich fuhr mir mit der Hand an die Brust und spürte, wie mein Herz klopfte.
    Sie war tot. Das sah ich auf einen Blick – ihr regloser Körper, ihr kalkweißes Gesicht, dieser grässliche Blick. Violette rannte zu mir, versteckte sich in meinen Röcken, durch den dicken Stoff hindurch packte sie meine Hüften. Am liebsten hätte ich ihre sich festkrallenden Finger weggestoßen und um Hilfe gerufen, aber ich war unfähig, mich zu bewegen. Ich stand einfach nur da, vom Donner gerührt. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich wieder gefasst hatte. Ich eilte in die Küche und schreckte das Dienstmädchen auf. Violette jammerte mittlerweile vor Angst. Ein langgezogenes, hohes Heulen, das mir in den Ohren schmerzte. Ich flehte sie an, still zu sein.
    Maman Odette war tot. Und Du warst nicht zu Hause. Das Hausmädchen kreischte auf, als sie die Leiche auf dem Teppich sah. Irgendwoher nahm ich ausreichend Kraft, um ihr zu befehlen, sich zusammenzureißen und Hilfe zu holen. Schluchzend verschwand sie. Ich blieb mit dem schreienden Kind zurück, ich konnte die Leiche nicht mehr ansehen. Beim Frühstück hatte Maman Odette noch ganz munter gewirkt. Sie hatte ihr Brötchen mit Appetit gegessen. Warum war dies geschehen? Wie war das möglich? Sie konnte nicht tot sein. Der Doktor würde kommen und sie wiederbeleben. Tränen rannen mir über die Wangen.
    Schließlich kam der Arzt mit seiner schwarzen Tasche die Treppe heraufgepoltert. Schnaufend kniete er sich hin und legte Maman Odette zwei Finger an den Hals. Als er dann sein altes Ohr auf ihre Brust drückte, schnaufte er noch mehr. Ich wartete und betete. Aber er schüttelte seinen grauhaarigen Kopf. Und dann schloss er Maman Odette die Lider. Es war vorbei. Sie war tot.
    Als mein Vater starb, war ich noch ein Kind gewesen und kann mich an nichts erinnern. Maman Odette war die Erste meiner Familie, die ich sterben sah. Ihr Tod war eine Katastrophe für mich. Wie sollte ich ohne ihr Lächeln zurechtkommen, ohne den Klang ihrer Stimme, ihre Schrullen, ihr weiches Lachen? Alles in unserem Haus erinnerte mich ständig an sie, wie um mich zu verhöhnen. Ihre Fächer, ihre Hauben. Die Sammlung kleiner Elfenbeintiere. Die Handschuhe mit ihren Initialen. Ihre Bibel, die immer in ihrem Retikül steckte. Die kleinen Lavendelsäckchen mit ihrem betörenden Duft, die sie hier und da zwischen die Dinge schob.
    Der Salon wurde nach und nach schwarz vor Menschen. Der Priester, der uns getraut hatte, kam und bemühte sich vergeblich, mich zu trösten. Die Nachbarn liefen vor dem Haus zusammen. Madame Collévillé war in Tränen aufgelöst. Alle hatten Maman Odette gemocht.
    »Es war ohne Zweifel ihr Herz«, sagte der alte Arzt zu mir, als man die tote Maman Odette in ihr Schlafzimmer trug. »Wo ist Ihr Mann?«
    Alle fragten wieder und wieder, wo Du seist. Jemand bot sich an, Dir umgehend eine Nachricht zu schicken. Ich glaube, es war Madame Paccard vom Hotel Belfort. Ich wühlte in Deinem Studierzimmer und suchte die Adresse des Notars. Und als ich dann meiner Tochter über den Kopf strich, musste ich an den Überbringer der schlechten Nachricht denken, der nun auf dem Weg zu Dir war und Dir stetig näher kam. Du wusstest nichts. Du berietst Dich mit Maître Regnier über Hinterlassenschaften und Geldanlagen und hattest keine Ahnung. Ich zuckte zusammen, als ich mir Deinen Blick vorstellte, wenn man Dir den Zettel übergeben würde, wie Du erbleichen würdest, wenn Du die Worte begriffen hättest, wie Du Dich
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