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Das Haus der Madame Rose

Das Haus der Madame Rose

Titel: Das Haus der Madame Rose
Autoren: Tatiana de Rosnay
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jenem Tag trug, schlichte Pantoffeln, hübsch und weiblich, und ich erinnere mich an Germaines Schrei, als ich ihr sagte, was in dem Brief stand.
    Erst später, viel später, als ich allein in unserem Schlafzimmer war, brach ich auf dem Bett zusammen. Ich wusste zwar, dass dies früher oder später eintreten würde, aber es war trotzdem ein Schock. In der Nacht dann, als alle im Haus schliefen, nahm ich eine Kerze und holte den Stadtplan heraus, den Du Dir immer so gern ansahst. Ich rollte ihn aus und legte ihn flach auf den Esstisch, wobei ich darauf achtete, dass kein Wachs darauf tropfte. Ja, ich sah es: den unaufhaltsamen Vorstoß der Rue de Rennes nach Norden, die von der Gare Montparnasse direkt auf uns zuläuft, und den Boulevard Saint-Germain, ein gieriges Monster, das vom Fluss aus nach Westen kriecht. Mit zwei zitternden Fingern folgte ich ihrem Lauf, bis diese sich trafen. Genau in unserer Straße. Ja, mein Lieber, unserer Straße.
    In der Küche ist es kalt. Ich muss hinuntergehen und ein weiteres Umschlagtuch holen. Und Handschuhe – aber nur für meine linke Hand, denn die rechte muss für Dich weiterschreiben. Du dachtest, die nahe Kirche würde uns retten, Liebster. Du und Père Levasque.
    »Die Kirche werden sie niemals anrühren, auch die umliegenden Häuser nicht«, höhntest Du vor fünfzehn Jahren, als der Präfekt ernannt wurde. Selbst nachdem wir gehört hatten, was mit dem Haus meines Bruders Émile geschehen war, als der Boulevard de Sébastopol gebaut wurde, hattest Du noch keine Angst. »Wir sind in der Nähe der Kirche, das wird uns schützen.«
    Ich setze mich oft in die Kirche und denke an Dich. Vor einem Jahrzehnt bist Du nun von uns gegangen. Für mich ist es wie ein Jahrhundert. In der Kirche ist es ruhig, friedvoll. Ich betrachte die alten Pfeiler, die rissigen Gemälde. Ich bete. Père Levasque kommt zu mir, und wir unterhalten uns in dem gedämpften Halbdunkel.
    »Es braucht mehr als einen Präfekten oder einen Kaiser, um unserem Viertel etwas anzutun, Madame Rose! Die Kirche ist sicher, wir sind es also auch, unser Viertel kann sich glücklich schätzen«, flüstert er eindringlich. »Childebert, der Merowingerkönig und Stifter unserer Kirche, wacht über seine Gründung wie eine Mutter über ihr Kind.«
    Gern erinnert mich Père Levasque daran, wie oft die Kirche im neunten Jahrhundert von den Normannen geplündert und niedergebrannt wurde. Ich glaube, dreimal. Wie sehr Du Dich doch geirrt hast, Liebster.
    Die Kirche ist sicher, nicht aber unser Haus. Das Haus, das Du liebtest.

Am Tag, als der Brief kam , brach in unserer kleinen Straße hektische Panik aus. Der Buchhändler Monsieur Zamaretti und Alexandrine, das Blumenmädchen, kamen zu mir nach oben. Sie hatten das gleiche Schreiben von der Präfektur erhalten. Aber ich sah ihnen an, dass sie es gar nicht so schlimm fanden. Sie könnten ihr Geschäft auch anderswo wiedereröffnen, oder etwa nicht? In der Stadt gäbe es immer einen Platz für eine Buchhandlung und ein Blumengeschäft. Ja, sie wagten nicht, mir in die Augen zu sehen. Sie spürten, dass es für mich viel schlimmer war. Als Deine Witwe gehörte das Haus mir. Wie Du und vor Dir Dein Vater und vor ihm wiederum dessen Vater hatte ich die zwei Läden vermietet, den einen an Monsieur Zamaretti, den anderen an Alexandrine. Von dieser Miete lebte ich. So kam ich über die Runden. Bis jetzt.
    Ich erinnere mich, dass es ein heißer, schwüler Tag war. Schon in der Frühe wimmelte es in der Straße nur so von unseren Nachbarn, die den Brief in der Hand schwenkten. Es war ein richtiges Spektakel. Alle schienen an jenem Morgen auf der Straße zu sein, Stimmen erhoben sich laut bis hinunter zur Rue Sainte-Marguerite. Da war Monsieur Jubert von der Druckerei mit seinem farbfleckigen Schurz. Madame Godfin stand vor ihrem Kräuterladen. Buchbinder Bougrelle paffte seine Pfeife. Die rassige Mademoiselle Vazembert vom Kurzwarengeschäft (die Du, Gott sei Dank, nie kennengelernt hast) stolzierte auf dem Kopfsteinpflaster auf und ab, als wollte sie ihre neue Krinoline vorführen. Unsere nette Nachbarin Madame Barou lächelte freundlich, als sie mich erblickte, aber ich sah ihr die Erschütterung an. Monsieur Monthier, der Chocolatier, weinte. Monsieur Helder, der Wirt des Restaurants Chez Paulette , wo Du immer so gern hingingst, biss sich nervös auf die Lippe, wobei sein buschiger Schnauzbart auf und ab hüpfte.
    Ich trug einen Hut, denn ohne Hut gehe ich nie aus dem Haus, aber
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