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Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)

Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Haupt der Welt: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Rebecca Gablé
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Sie schießen unsere Wachen vom Wehrgang und stecken unsere Palisaden in Brand. Seit sie da draußen liegen, ist kein Bote mehr durchgekommen, geschweige denn Proviant. Sie schlafen niemals, und sie scheinen immer noch genug zu essen zu haben, während wir hungern. Sie haben all ihre Nachbarn im Westen und Süden unterworfen, weil sie eben stärker sind und mehr Kriegsglück besitzen. Und jetzt haben sie ihren gierigen Blick nach Osten gerichtet und die Elbe überschritten, um uns ebenfalls zu unterwerfen. Trotzdem machen sie mir keine Angst, denn auch wir sind stark. Aber wie steht es mit unserem Kriegsglück?«
    Bolilut betrachtete ihn voller Argwohn, beinah lauernd. »Ich verstehe nicht, was du meinst.«
    »Nein?«
    »Unser Kriegsglück wird zurückkehren, wenn wir Jarovit mit einem Opfer versöhnen. Das solltest du besser wissen als ich. Und das Los ist nun mal auf deinen Sachsen gefallen.«
    Tugomir nickte langsam. »Das ist es, was mir Sorgen macht. Wir stehen dem mächtigsten Feind gegenüber, mit dem wir es je zu tun hatten, und alles, was wir Jarovit für seinen Beistand bieten, ist ein blinder Sklave?«
    Bolilut zuckte unbekümmert die Achseln. »Du meinst, ein Fürstensohn und Tempelpriester würde den Göttern eher zusagen? Nur zu, Bruder, Freiwillige vor. Ich würde dir bestimmt keine Träne nachweinen. Und davon abgesehen …«
    Ein kunstvoll geschnitzter Eschenstock landete unsanft auf Boliluts Schulter. »Was sind das für frevlerische Reden?«, schalt eine altersraue Stimme. »Wann wirst du lernen, den Göttern Respekt zu erweisen, du junger Taugenichts?«
    Tugomir erhob sich von seinem Schemel, und die ungleichen Brüder verneigten sich.
    »Vergib mir noch dies eine Mal, Schedrag«, bat Bolilut augenzwinkernd und klopfte seinem Bruder jovial auf den Rücken, um zu vertuschen, dass das plötzliche Auftauchen des Hohepriesters ihn einschüchterte. Bolilut war sechsundzwanzig – acht Jahre älter als Tugomir –, hatte einen Sohn von seiner Frau, mindestens fünf von seinen Sklavinnen, und die Götter allein mochten wissen, wie viele Töchter. Er war ein wilder Geselle und großer Krieger und wartete mit unzureichend verhohlener Ungeduld darauf, dass ihr Vater endlich starb und den Fürstenthron für ihn räumte – aber vor dem Hohepriester fürchtete er sich.
    Das amüsierte Tugomir ebenso, wie es ihn mit Befriedigung erfüllte. Seit jeher war es Tradition in ihrer Familie, dass der jüngere Sohn Priester im Tempel des mächtigen Jarovit wurde. Diese Rolle war Tugomir zugefallen, und manchmal bewahrte die Würde, die damit einherging, ihn vor Boliluts brüderlichen Heimsuchungen.
    »Das Los bestimmen die Götter«, belehrte Schedrag sie streng. »Sie suchen sich ihr Opfer selber aus, und wir werden ihre Ratschlüsse nicht in Zweifel ziehen, ist das klar?«
    »Gewiss, Schedrag«, antwortete Bolilut – es klang geradezu kleinlaut.
    Tugomir nickte schweigend. Wie allen jungen Priestern war es ihm während des letzten Jahres seiner Ausbildung verboten, das Wort an den Hohepriester zu richten. Denn der Schüler musste das Gefäß werden, in welches der Meister alles Wissen, alle Zaubersprüche und Geschichten eingab, die auf diese Weise von einer Generation an die nächste überliefert wurden. Erst wenn der Schüler alle Fragen gestellt, all seine Zweifel und seine Unrast hinter sich gelassen hatte, durfte er sein Jahr des Schweigens beginnen, und nicht viele waren mit so jungen Jahren wie Tugomir dafür bereit. Sein Vater hatte einen Bullen geschlachtet und ein Fest zu Tugomirs Ehren gegeben, als Schedrag ihm mitgeteilt hatte, der junge Mann sei so weit. Und Bolilut hatte es sich nicht nehmen lassen, seinem Bruder einen Ledersack über den Kopf zu ziehen und ihn in die Kellergrube unter der Halle zu sperren, als alle zu betrunken waren, um es zu merken, denn Bolilut schätzte es nicht sonderlich, wenn nicht er derjenige war, der im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand …
    »Also dann.« Der Hohepriester vollführte eine ungeduldige Geste mit seinem Stock. Er war ein uralter, nahezu zahnloser Mann, auf dessen Haupt kein einziges Haar mehr wuchs, dafür aber üppige Büschel in den Ohren. Er wirkte runzelig und geschrumpft wie eine Dörrpflaume. Dieser offensichtliche körperliche Verfall tat seiner Würde aber seltsamerweise keinen Abbruch. Tugomir hatte lange darüber nachgedacht, warum das so war, und war zu dem Schluss gekommen, es müsse an den Augen liegen. Diese waren dunkel und wirkten so
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