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Das große Los

Das große Los

Titel: Das große Los
Autoren: Georges Simenon
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schwertun, mit dir aufs Land zu fahren.«
    »Sie haben gewußt, daß ich kommen würde?«
    Das Herz schlug ihr bis in den Hals. Ihre Angst war nicht verflogen, im Gegenteil, wurde aber von einem anderen Gefühl überlagert, einer brennenden Neugier, fast der Gewißheit, daß sie eine Sternstunde erlebte und sich eine Menge Geheimnisse klären würden.
    Auch für den Mann schien eine Stunde gekommen, auf die er jahrelang gewartet hatte, man hätte meinen können, er verkostete sie wie einen alten Cognac, schlückchenweise.
    »Du brauchst gar nicht zur Tür oder zum Fenster zu gucken«, sagte er. »Keiner ist hier ohne meine Erlaubnis je wieder rausgekommen. Und jetzt, wo du mich gesehen hast, muß ich dir leider eröffnen, daß auch du hier nicht mehr lebend rauskommst.«
    »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«
    »Ich hatte gedacht, du bittest mich jetzt um Gnade.«
    »Machen Sie’s selber?«
    »Hab’ ich schon mal. Genau der Grund, weshalb Justin Duclos für den Rest seiner Tage an den Rollstuhl gefesselt ist.«
    Seine Nasenflügel wurden weiß. Er sprach jetzt so tonlos wie ein Automat.
    »Ich hätte dich dein Märchen erzählen lassen und mit dir Katz und Maus spielen können. Hätte mir vielleicht Spaß gemacht, zu hören, was du dir ausgedacht hast.«
    »Sie werden doch nicht etwa Mitleid kriegen?« fragte sie sarkastisch.
    Denn seltsamerweise war sie ruhiger und hatte sich besser im Griff als in der Kneipe vorhin. Sie war mattgesetzt, ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Sie wußte, daß sie von ihm nichts Gutes zu erwarten hatte. Hilfe, so es welche geben sollte, würde von außen kommen müssen, und mit sowas konnte sie kaum rechnen.
    »Wenn du mich besser kennen würdest, wenn du die Bittstellerszene miterlebt hättest, die sich zwischen mir und dem Herrn abgespielt hat, den du Vater nennst, würdest du nicht von Mitleid reden. Ich will bloß, daß es endlich jemand erfährt. Verstehst du das nicht?«
    »Hab’ schon verstanden. Jemand, der hinterher nicht darüber reden kann, nie mehr?«
    »Genau. Stell dir vor, ich bin ein uralter Freund von Duclos: Wir sind zusammen zur Schule gegangen, ich hab’ ihn Justin genannt und er mich … Egal, wie er mich genannt hat.«
    »Sie halten es also doch für möglich, daß ich noch reden könnte?«
    »Man kann nie vorsichtig genug sein«, erwiderte er und sah sie dabei ernst an. »Vor allem bei Justin. Bis jetzt bin ich der Schlauere gewesen.«
    Dabei sah er leicht beunruhigt zur Tür.
    »Warum haben Sie ihn angefleht?«
    »Weil er meinen Sohn verhaftet hatte. Ich hatte bloß den einen. Beweise gegen ihn lagen nicht vor. Er hatte was angestellt. Justin hätte ganz zu Beginn noch einstellen oder nur pro forma ermitteln können. Ich war bei ihm in seinem Büro am Quai des Orfèvres, ohne Erfolg. Dann war ich bei ihm zu Hause, am Quai de la Tournelle, und an dem Abend habe ich vor ihm auf den Knie gelegen.«
    Schweigen, dann fielen die Worte einzeln.
    »Er hat meinen Sohn trotzdem unter die Guillotine legen lassen. Das ist jetzt zwölf Jahre her. Fünf Jahre lang habe ich meine Rache aufgeschoben. Weißt du, warum?«
    Er erwartete keine Antwort. Er redete ebensosehr für sich selbst wie zu ihr.
    »Weil mich Justin jetzt schon zwanzig Jahre lang sucht, ohne zu wissen, daß ich es bin. Und er hat mich nie gefunden! Er hat es nie geschafft, bis zu mir vorzudringen, er hat zehn von meinen Leuten vor Gericht gebracht, er hat etliche in die Strafkolonie geschickt, und nicht erraten, wer die Fäden zieht.«
    Er hockte reglos in seinem Sessel, in dem er gewiß ganze Tage zubrachte, nach seiner Unbeweglichkeit zu urteilen. Doch unter dieser erstarrten Oberfläche brodelte Leben.
    »Siehst du, mein kleines Mädchen, man entdeckt manchmal erstaunliche Dinge, wenn man einen Monsieur Gaston besuchen geht, den es gar nicht gibt.«
    »Nennen Sie mich nicht kleines Mädchen.«
    »Ich weiß aber noch genau, wie du damals bloß ein winziger Säugling warst, und einer meiner Leute, weil jetzt ein Kind da war, die Unverschämtheit hatte, sein Leben ändern zu wollen.«
    Sie wurde steif, traute sich nicht mehr den Mund aufzumachen, aus Angst, er könnte aufhören zu reden.
    »Deinen leiblichen Vater hab’ ich nämlich auch gekannt. Ich hab’ in meinem Leben ja so viele von den Jungs kennengelernt! Justin hat ihn aufs Schafott geschickt, genau wie ein paar andere, ist dir doch sicher bekannt? Aber eins weißt du bestimmt nicht, daß ich ihm in die Hände gespielt habe, denn wenn
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